Hört sich an wie ein nächtlicher Eber im Unterholz. Oder sind es gar zwei? Schmatzende Tiefe. Andreas Schaerer hat kurz samt Micro die bosco-Bühne verlassen, um unten wie ein Wildschwein stimmlich zu gründeln, während die fünf anderen Musiker von „Hildegard lernt fliegen“ oben ihre Blasinstrumente wetzen – ein Kosmos aus Lauten. Bilder im Kopf. Plötzlich Schaerers Sprechgesang: „This is about fun...“ Es geht um den „Spaß“, eine solche Truppe zu dirigieren, bei hoch komplexen Kompositionen, die eine wie die andere eine Wundertüte.
Wohl nie zuvor wurde das bosco-Jazz-Publikum mit einer solchen Form musikalischer Unberechenbarkeit konfrontiert: Sechs Mann, die sich auf den ersten Horcher an gar keine Spielregeln zu halten scheinen, bis einem dämmert, dass bei den Schweizern alles bis ins kleinste Detail einem Masterplan unterliegt und eben wie ein Schweizer Uhrwerk funktioniert. „Hildegard lernt fliegen“ besteht aus drei „echten“ und einem „falschen“ Bläser (mehr davon später), aus Kontrabass (Marco Müller), Schlagzeug/Marimba (Christoph Steiner) und eben dem Vokal-Virtuosen und Komponisten Schaerer, der mit seiner beatbox-artigen Stimmakrobatik locker eine Trompete samt Dämpfer ersetzt. Dem gerne staccato- bis Bop-mäßigen „Gebläse“ (Matthias Wenger, Tenor- und Sopransaxophon, Flöte; Andreas Tschopp, Posaune, und Benedikt Reising, Bariton- und Altsaxophon) steht also ein viertes Element entgegen, das immer wieder aus der Reihe tanzt oder sich auch mal zu einem Duett Vokal/Sax einfindet – für den Zuhörer ist es auch optisch ein Ereignis, wenn Instrumentalist und „Naturalist“ Seite an Seite agieren. Schaeber spricht zwischendurch von einem „symphonischen Projekt“, das eigentlich von 66 Musikern, Streichern und Gong „orchestral“ und nicht nur sechst in die Tat umgesetzt werden sollte: „Das ist anstrengend, wir wären gerne mehr“, sagt Schaerer, "vielleicht spielen wir mal wieder in einer dieser großen Hallen?“
Seit die Schweizer auf Tournee sind (nach Starnberg im Sommer zum zweiten Mal im Landkreis), treten sie erst mal in „kleiner Formation“ und auf nicht ganz so riesigen Bühnen auf. Und wenn Schaerer mal zum Solo ansetzt, glaubt man tatsächlich, in seiner Stimme (gleichzeitig Kopf-Tonlage und Klicklaute) stecken Platz sparender Weise gleich zwei Musiker, mindestens. Englischsprachiges Libretto in opernhaften Klaus-Nomi-Höhen (man versteht hier freilich eher Bahnhof) wechseln sich ab mit vokalem Drumming, mit gutturalen, röhrenden Tiefen, mit einer Prise Frank Zappa-Sprech. Wie gesagt, eine Wundertüte. Zwei Saxophone duellieren sich schrill quäkend so lange, bis die Posaune gravitätisch einschreitet, die beiden „Streithähne“ wie ein Schlichter kurz zum Verstummen bringt und selbst einen längeren Vortrag hält – es ist, als würden nie gekannte Lebewesen in einem fremden Biotop um die Wette schnattern, piepen, grunzen. Artenvielfalt, hörbar gemacht. Manchmal meint man auch, akustisch ein ins Taumeln geratenes Räderwerk zu erleben, das sich auf einmal doch noch „fängt“. Und wollte man unbedingt eine „schweizerische“ Assoziation bemühen, dann könnte das hier auch ein wilder Almabtrieb sein oder ein gruseliges Perchten-Treiben in Basel.
„Hildegard lernt fliegen“ ist Jazz für Base-Jumper, ein spannungsgeladenes Projekt mit durchaus kalkuliertem Risiko, das sich mit seiner Höhen-Tiefen-Akrobatik für konventionell gefütterte Ohren anhört wie ein entfesselter Zirkus, dem die Raubtiere ausgekommen sind. Oder auch ein nicht einzufangendes Wildschwein. Begeisterung im Gautinger Unterholz.