„Auf die österreichische Bahn ist Verlass“, sagt Jazz-Spartenleiter Ludwig Seuss, als er im bosco die aus Wien angereiste Gitarren-Legende Karl Ratzer ankündigt. Auf die Legende selbst war ebenfalls Verlass: Das Konzert, unter dem Motto der neuesten CD-Ein-spielung namens „Tears“ annonciert, entfachte schlichtweg die Aura eines ganz Großen. Der mit Gipsy-Leichtigkeit und US-Einflüssen gesegnete Meister sollte eigentlich mit vier Musikern als „Karl Ratzer Quintet“ auftreten, doch weil Trombone-Spieler Ed Neumeister ausgefallen war, reduzierte sich die Formation diesmal auf ein Quartett: Für den aus Weilheim stammenden Tenorsaxophonisten Johannes Enders war Gauting quasi ein Heimspiel, für Kontrabassist Peter Herbst und Drummer Howard Curtis immerhin eine Bahnfahrt mit der ÖBB bei anspruchsvollstem Winterwetter.
Ratzer war sein Ruf jedenfalls auch durch den Schneesturm vorausgeeilt, und so harrten eingefleischte Fans und Ratzer-Novizen gemeinsam auf das, was sie hinterm Ofen hervorgelockt hatte – die Magie des Augenblicks! Und der Mann mit dem Kapperl und der Tarnbrille war plötzlich da, als es damit ernst wurde – überließ zunächst der starken Präsenz des Kollegen Enders das Feld, schien an der E-Gitarre nur Kommentare abgeben zu wollen, wenn die drei Anderen sich die Bälle zuspielten. Dann aber erhob dieser bis dahin wie ein Florida-Rentner auf seinem Stuhl sitzende Ratzer auf einmal seine nahezu brüchige Stimme, um über eine fast schon Verflossene zu singen, die er nur noch als schönen Schmetterling („Butterfly“) in Erinnerung hat: „If you don´t come back / I would never sigh or cry / I just would die...“ Als Zuhörer solch herzzerreißender Zeilen aus dem Munde eines älteren Herren sieht man sich sogleich als einziger Gast in einer dieser trostlosen Keller-Bars bei einem Whisky-Glas sitzen – an der Wand Katastrophen-Bilder wie von der sinkenden „Titanic“. Ratzer, keine 69 Jahre alt und doch schier 100 Jahre auf dem Balladen-Buckel, erzeugt mit nur wenigen Handgriffen und gesanglichen Tupfern ein ganzes Panoptikum der leisen Wehmut. Das Publikum, darunter Leute, die dem Wiener nach eigenen Angaben seit 34 Jahren zu jedem Konzert hinterher reisen, hält den Atem an, wenn diese Melancholie erblüht. Und selbst als Ratzer einmal eine ganze Weile braucht, um seine Saiten zu justieren („Ich muss genau stimmen, sonst kann ich nicht singen“), beobachtet es das stumme Geschehen voller Andacht so lange, bis Johannes Enders zur Überbrückung einen Witz über die Österreicher kredenzt.
Karl Ratzer hat sich die Harmonielehre übrigens selber beigebracht: Der Autodidakt soll darüber einmal lapidar gesagt haben: „Vorher hab´ i gspielt und net gwusst wie“. Von 1972 bis 1980 hat er in den Staaten gelebt und ist dabei mit so gut wie allen damaligen Größen auf der Bühne gestanden. Mit Enders, dem experimentierfreudig-genialen Sax-Spieler aus Oberbayern, hat er bereits eine gemeinsame CD eingespielt, mit Neumeister, Herbst und Curtis ist er nun auf „Tears“-Tour. Die Gangarten reichen heute von Bebop über Funk bis zu Fusion-artigen Klangbildern: Ratzer kann mit seiner E-Gitarre auch mal hart dazwischengrätschen, wenn er Lust dazu hat, doch meist bevorzugt er die fingerfeine Zurückhaltung, die sich im Zusammenwirken mit den drei oder vier Kollegen ganz plötzlich zu prachtvoller Entfaltung erheben kann. Und er verbeugt sich vor der Ahnenreihe des Jazz und Blues, serviert Dave Brubecks „In Your Sweet Way“, eine alte Nummer des Organisten Larry Young, den Ray-Charles-Song „Hallelujah, I Just Love You“. Im Publikum können seine Fans sogar leise mitsingen, wenn er auf seine unvergleichliche Weise „Sweet Lorraine“ intoniert, als wäre er samt dem Lied und seiner Stimme einer Zeitkapsel entstiegen. Die Kollegen kommen im Laufe des Abends ausführlich zu ihrem Recht, wobei die Abfolge der – durchaus vorzüglichen - Soli zuweilen etwas absehbar wirkt: Ratzer ist Teamplayer, er lässt andere gewähren, nennt im genuschelten Wienerisch mindestens drei Mal die Namen jedes Musikers, mischt sich bei den ausladenden Stücken nach anfänglicher Minimalistik wie spontan immer wieder wuchtig ein ins musikalische Geschehen und ebnet dann beispielweise Enders und dessen enormem Können erneut selbstlos die Bühne. Und auf einmal steht auch dieser „oide Weana“ senkrecht, als wäre das eigene Konzert für ihn ein Jungbrunnen. Bedankt sich wie ein Buddhist mit beiden Händen für die Gnade des Augenblicks, erntet seinerseits den Dank des begeisterten bosco. Ein Großer war da, eine Größe verlässlich wie die österreichische Bundesbahn im Winter.