Wenn es ein Kabarettist schafft, noch aus der Zugabe Funken zu schlagen, dann muss er wirklich was auf dem Kasten haben: Lars Reichow wandelt bei seinem allerersten Gastspiel im bosco das pflichtschuldige „Extra“ nach gut zweieinhalb Stunden Bühnenpräsenz in einer brillante Drohkulisse um, bei der er dem Publikum in schillernden Farben ausmalt, was es riskiert, wenn es immer weitere Zugaben einfordert – eine veritable Heimsuchung nämlich, bis hin zum nächtlichen Klingeln an der Haustür. Nein, vor dem gebürtigen Mainzer ist im Grunde niemand sicher, der herrlich überdrehte Szenarien zu schätzen weiß – und auch keiner aus der rechten Ecke: Erst kürzlich veranlasste Reichow den weniger humorbegabten hessischen AfD-Landesvorsitzenden bei der Karnevalssen-dung „Mainz bleibt Mainz“ zum vorzeitigen Verlassen der Prunksitzung, da kann man nur sagen: Solle mer se gehe losse?
Der 52-Jährige ist seit etwa 25 Jahren kabarettistisch unterwegs, hat aber aber auch eine hochkarätige musikalische Ausbildung in Form eines Bayreuth-Stipendiums genossen – dem aktuellen Programm „Freiheit!“ (mit Ausrufezeichen) merkt man diese Multi-Begabung auf sehr schöne Weise an, und Schauspiel hat er ja auch noch gelernt. So liefert Reichow im angenehmsten Plauderton ein Programm ab, das vor Abwechslungsreichtum und Pointendichte nur so strotzt: Schon der Auftakt im Donald-Trump-Jargon („Let´s make Gauting great again!“) hält sprachliche Nettigkeiten parat wie die Nachricht, dass in den USA die VW-Modelle „Gringo“ und „Sombrero“ ab sofort verboten sind und statt dessen das „Sport-Coupé Jovanka“ auf den Markt kommen wird. Reichow hält sich aber nicht lange auf mit dem amerikanischen Eichhörnchentoupetträger, sondern streift gleich mal en „neu entdeckten Planeten Schulz“ – der habe „eine fast kahle Oberfläche“.
Soweit die Tagespolitik. Das programmatische Stichwort „Freiheit“ umkreist der fernseh- und rundfunkerfahrene Entertainer dann mit dem gleichen unaufgeregten Tonfall: „Manche sagen mir ja, ich fühl mich frei, wenn du nicht da bist...“, wechselt er ins Private. Dort geht es dann mit der Freiheitssuche weiter, im Rahmen einer albtraumhaften Norwegen-Tour mit dem offenbar räumlich arg beengten Wohnmobil: „Man kann nur frühstücken, wenn alle einverstanden sind.“ Leicht wissenschaftlich-analytisch fallen diese Bilanzen der ewigen Suche und des fortwährenden Scheiterns aus, und zuverlässig steigern sie sich zu absurdester Komik. Die Geschichte vom „freien Tag“ zum Beispiel mündet in einem lustvoll ausgeschmückten Nutella-mit-Rotwein-Inferno und der Erkenntnis: „Hoffentlich habe ich morgen wieder etwas vor!“ Und zwischendurch immer wieder Lieder am Klavier, die durchaus ernst sein können wie jenes vom langsam sinkenden Flüchtlingsboot.
Reichow hat die subtile Gangart genauso im Repertoire wie die chaotische oder die nüchtern-reflektierende. Als er 50 wurde, musste er feststellen, dass sich die Kosenamen seiner Frau für ihn allmählich weg vom Tiger „in Richtung Nager-Bereich“ entwickelt hatten. Bemühungen, sich dem Musikgeschmack der dauerduschenden Jugend anzuwanzen, endeten in einer Art Kulturschock, und die überraschend eingestreute Nummer vom Hessisch babbelnden Fremdenfeind („Iberhaabt nischts gääsche Aasländer!“) hat sogar Polt´sches Niveau. Wo andere seines Fachs ihre Kritik an der Post(faktischen)Moderne mit weiten sprachlichen Ausholbewegungen gestalten, zieht der Mainzer kurzerhand in den nicht zu gewinnenden Kampf mit einer hypermodernen Espressomaschine – die befiehlt mitleidlos im Display: „Entkalkung JETZT!!“ Auch dieses Szenario hat Reichow natürlich wieder aufs Schönste so lange gesteigert, bis er gestehen muss: „Von wegen Crema, ich hatte Schaum vor dem Mund!“ Sein Begriff von Freiheit ist am ehesten der, etwas n i c h t zu müssen oder zu brauchen, also die Freiheit von etwas, im Sinne von „weniger Ballast“. Reichow fragt schließlich: Warum tun wir uns das an? Singt ein Lied von all den „Apps“, die er sich zugelegt hat. Droht mit einem Song über Fruchtfliegen, um auch die Endlichkeit noch zu thematisieren. Droht ganz zum Schluss mit der erwähnten „Heimsuchung“ durch den Künstler selbst. "Freiheit!" ist, um im Bild zu bleiben, ein dicker Schöpflöffel "Nutella", ja mehr als das. Das bosco-Publikum war hingerissen von so viel intelligenter Kurzweil, sogar dann noch, als Reichow andeutete, er könne ja nach Gauting ziehen notfalls. Eine weitere leere Drohung vermutlich.
Thomas Lochte