Die Kritiker umkreisen „Laura Jurd Dinosaur“ wie ein nur schwer zu fassendes exotisches Wesen: Die vierköpfige Formation aus England hat im Mai ihr drittes Album „To The Earth“ vorgelegt, war dann aber wegen der Pandemie erst mal daran gehindert, es live zu performen. „Es ist unser erstes Konzert nach vielen, vielen Monaten“, sagt eine spürbar hochgestimmte Jurd im Bosco, als würde sie ihr Publikum am liebsten erst einmal umarmen. Die in Medstad, Hampshire, aufgewachsene Laura erlernte mit vier Jahren das Klavierspiel, wandte sich später dem Trompetenspiel zu und fiel schon als 16-Jährige mit eigenen Kompositionen auf. Noch während ihres Studiums am Londoner Trinity College of Music gründete sie 2010 das Quartett „Dinosaur“, mit dem sie seither auch mehrfach in Deutschland gastierte. Die heute 30-jährige, unter anderem als „Intrumentalist of the year“ ausgezeichnete Laura hat ihre durchweg hochkarätigen Mitstreiter Elliot Galvin (Klavier), Conor Chaplin (Kontrabass) und Corrie Dick (Schlagzeug) also quasi in der College-Cafeteria kennengelernt – eine unschätzbare Basis für die Art von musikalisch blindem Verständnis, das nun auch die Gautinger erleben durften.
Das Konzept von „To The Earth“ ist geprägt von improvisatorischen Bausteinen prinzipiell gleichberechtigter Elemente, denen Laura Jurds Trompeten-Part allerdings eine überwölbende, geradezu „mütterlich wärmende“ Note verleiht: Selten bekommt man ein derart abwechslungsreiches Auskosten der technischen Möglichkeiten dieses Instruments zu hören wie hier – wäre man in der Philosophie oder Architektur unterwegs, man spräche wohl von musikalischem Dekonstruktivismus: „Dinosaurier 2.0“. Auch von „eng verzahnter hochdynamischer Improvisationsmusik“ war schon die Rede, wenn das Phänomen „Laura Jurd“ beschrieben werden sollte: Man muss als Zuhörer jeden Moment auf alles gefasst sein – auf das Aufbrechen von harmonischem Einverständnis, auf das Laufenlassen des Einzelnen, auf das jähe Zur-Ordnung-Rufen. Elliot Galvins Phantasie etwa scheinen keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, dem Lead-Instrument Trompete ein zartes „Aber“ entgegen zu setzen. Dabei stemmt er sich bisweilen derart in seinen Klavierhocker, dass er fast links weg zu rutschen droht. Beugt er sich über die Saiten, könnte man sagen: Er holt buchstäblich alles aus seinem Instrument heraus. Bassist Conor Chaplin hat seinerseits öfters eine „fett“ gezupfte Schlusspointe für sich, und Drummer Corrin Dick fühlt trotz Team-Spirit ein selbstbewusstes rhythmisches Eigenleben, gibt auch mal das Ordnung stiftende „Metronom“. All das kommt ohne große Lautmalerei aus, die erdverbundenen „Dinosaurier“ treten eher leichtfüßig auf, sie äsen sozusagen vegetarisch.
Als es zwischendurch Probleme mit der Sound-Anlage gibt, setzen Laura & Co. ihren Auftritt einfach unverstärkt fort: „Ab jetzt ist es ein echt akustisches Konzert, also genau der Klang, wie wir ihn eben machen“, kommentiert Laura pragmatisch. Es folgt eine Art von erdgeschichtlicher Tierkunde, ein musikalisches Kreuchen und Fleuchen mit indischem Einschlag – wer will, kann sich an dieser Stelle eine heilige Kuh vorstellen oder einen Elefanten im Dschungel. Dass Laura Jurd auch Komposition unterrichtet (am Trinity Laban Conservatory for Music and Dance in London), merkt man ihren eigenen assoziationsstarken Arbeiten unbedingt an. Und bei allem „Eigenbau“ und allem lustvollen Improvisieren mit lockeren Zügeln wird doch auch die Musiktradition nicht vergessen: Der „Banning Street Blues“ gegen Ende des To-The-Earth-Abends überrascht noch einmal auf ironische Weise mit Latin-Anklängen und einem lässigen Schwung, wie man ihn unmittelbar zuvor im „Dschungel“ eher nicht erwartet hätte. Laura Jurd Dinosaur – eine vitale Metapher für Vielschichtigkeit. Im Bosco hatte man erst den Atem angehalten, dann entlud sich die positive Spannung in begeistertem Applaus, der sich sogar noch Zugaben verdiente. Die britischen Dinos kommen bestimmt gerne wieder.