„Haben Sie keine Angst!“, sagt Bassist Maximilian Hirning. Und dann geht es auch schon los mit 90 rauschhaften Minuten ohne Pause, an die man sich im Bosco noch lange erinnern wird: Zu Beginn Klaviertöne wie von einer minimalistisch gefütterten Spieluhr, ein Kontrabass-Seufzer, leicht abfallend. Ein durchgängiger Schlagzeug-Beat setzt ein, Leo Betzl greift in die Saiten des Pianoforte, als wolle er sie anschnallen. Es resultiert ein anschwellendes, stählernes Gewitter. Dubbing-Effekte gesellen sich hinzu. Drummer Sebastian Wolfgruber trägt Kopfhörer, gerüstet wie für einen heraufziehenden Krieg. Der gestrichene Bass produziert zunächst noch Walgesangartiges, das Piano aber ist schon pures Eisen, in hartem, mitleidlosem Anschlag. Und immer wieder dieser stampfende, malmende Beat, der bald alles und jeden mit sich reißt: „Wir sind ein Klaviertrio, das Techno spielt“, hat Hirning gewarnt. Jetzt geht sie ab, diese aufregende Post aus München, die in den Jazz-Foren und auf Festivals der Republik seit einiger Zeit so heiß gehandelt wird und auch schon mit dem „BMW World Jazz Award 2018“ ausgezeichnet wurde – man lernt ziemlich rasch: Es gibt kein Entrinnen aus diesem Sog, der da entfacht wird. Eine kurze melodiöse Skizze (war es ein Skrjabin-Zitat?) gönnt dem Ohr nur noch ein kurzes Verschnaufen, dann treibt der Mahlstrom wieder unaufhaltsam vorwärts. Einige wenige Zuhörer kapitulieren, ein paar tanzen, die meisten aber legen die Ohren an bei dem, was da gerade über sie kommt. Wippende Füße, wackelnde Köpfe, wohliges Bauchgefühl. Sind wir nicht alle Resonanzkörper? Anderthalb Stunden lang Beschuss vom Feinsten. Alles hat eine kompositorische Basis, von Klassik-Fetzen über Minimal Music bis zu House und Techno. Als hätte jemand den gechillten „Café del Mar“-Sound unter Starkstrom gesetzt, arbeiten sich diese Triathleten da vorne an ihrer Agenda ab, die da heißt „Way Up In The Blue“, genau wie die CD: Es ist, als ob man einem unbekannten, pulsierenden Organismus mit drei Köpfen beim Atmen und Fressen zuschaut – allein der Bass-Korpus mutiert akustisch fortwährend, er knarzt, stöhnt, schmeichelt, wimmert, gibt den tieftönenden Ozeandampfer.
„Technoide Musik auf analogen Instrumenten“, hieß es in der unschuldigen Ankündigung. Kontrabass wie E-Bass, Piano und seine fixierten Saiten zuweilen wie ein Dashboard, die Drums eine einzige, dunkle Lawine. Halt – war das eben doch eine 4/4-Pause? Nichts da, weiter mit der wilden Jagd! Es „umzt und umzt“ im permanenten Techno-Beat, das Klavier produziert ein Achtel-Staccato, Maximilian Hirning gibt Rauchzeichen, verbreitet Shisha-Qualm, legt seinen Kontrabass quer auf den Boden, entlockt, selber nahezu meditativ daliegend, dem untersten Steg-Abschnitt seines Instruments in bizarrer Regelmäßigkeit nie gehörte Klänge. Seinen Streicherbogen wirft er zum Piano hinüber, wo Betzl das Teil auf die Klaviersaiten ansetzt wie eine Säge. Unablässig vorwärts treibt Wolfgruber dazu sein vor Kraft schier berstendes Schlagzeug, als wären es afrikanische Buschtrommeln. Schwerstarbeit. Währenddessen insistiert Betzl am Klavier erst auf drei Anschlägen, dann nur noch auf einer Tonhöhe – es ist dies auch ein großes Ringen. Der Kontrabass und sein Meister erheben sich wieder, man nimmt nochmals Fahrt, Wucht und Lautstärke auf, steuert auf einen orgiastisch anmutenden Höhepunkt zu – ehe alles in einem einzelnen Schlussakkord endet. Als „musikalisches Abklingbecken“ noch eine Standard-Jazz-Zugabe, in aller Unschuld, versteht sich.
Geschafft! Meine Damen und Herren, Sie hörten soeben eines der aufregendsten Live-Konzerte in der Geschichte des bosco. Bleiben Sie noch so lange angeschnallt sitzen, bis das grüne Zeichen aufleuchtet. Wir danken Ihnen, dass Sie mit dem Leo Betzl Trio geflogen sind. . .