„Ein Gedicht rettet einen Tag“, lautet ein Vers des argentinischen Dichters Roberto Juarroz. Die neunzehn Gedichte, die im Rahmen der literarischen Performance „Lyrik für Anfänger“ präsentiert wurden, ließen für das Publikum diesen herbstnebligen Tag in einem abendlichen Feuerwerk enden und gewiss aufs köstlichste retten (wenn er denn zu retten hätte sein müssen). Einen Querschnitt der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik hat Justina Schreiber zusammengestellt und mit kleinen, eigens von ihr dazu geschriebenen Szenen konfrontiert, die ein besonderes, oft ein Augenzwinkern auslösendes Licht darauf werfen. Ursprünglich für die Sendereihe „Lyrik am Vormittag“ im „Notizbuch“ (Bayern-2) konzipiert, hatten Schreiber und die vier Schauspieler an dem Projekt so viel Spaß, dass ein Live-Programm daraus entstand. Die Literatur-Sparte im bosco eröffnete damit die Spielzeit und setzte ein Zeichen des lustvollen Denkens: „Selbst denken - der Spaß der Zukunft“, hieß es in einer der Szenen.
Und wie lustvoll gedankenreich, wie be-denkenswert schräg und höchst gegenwärtig ist doch die Neue Lyrik. Da ist von „Navideutsch“ die Rede und davon, wie aktuelle Technik die Sprache und mit dieser die Kommunikation beeinflusst - „wir biegen links ab und gleich darauf links ab“ (im Gedicht „café Utopia 5“ von Armin Steigenberger). Da wird die „Morgenröte“ zur Irritation angesichts eines lippenstiftgestalteten Gesichts („Morgenröte“ von Johannes Kühn). Und eine musikalische Matinee gibt Anlass zu Mordgedanken, da eine Flöte „atmend alle Kulturkubikmeter voll“ spielt (in „Matinee“ von Christa Wißkirchen).
Das besondere Vergnügen zu den mal humorvollen, mal melancholischen, meist höchst hintergründigen Gedichten aber boten die Szenen, die Justina Schreiber dazu erdichtet hat. Ulrike Draesners sprachwitzigem Vogelgedicht „hausrotschwanz“ stellt sie den Dialog eines Pärchens beim Eisessen gegenüber, in dem Er das Bestimmen von Vögeln als „veraltete Kulturtechnik“ abtut und Sie nach einer App sucht, die genau dies tut. Durs Grünbeins freche „Phantasie über die öffentlichen Latrinen“ gibt Anlass zu einem Gespräch zwischen Müttern über die Bedeutung von Kulturreisen ins europamüde, unter seinen Ruinen leidende Griechenland. Und das düstere „Hier klebt meine Zunge“ von Norbert Weiß erfährt in der Szene eines launigen, den Eigenbrötler als solchen entlarvenden Klassentreffen.
Die Schauspieler Katja Schild, Caroline Ebner, Christian Baumann und Hans Jürgen Stockerl gestalten diese doppelten Dialoge - zwischen den Gedichten und den Szenen wie auch innerhalb der Szenen - mit sicht- und hörbarem Spaß, großem Einfühlungsvermögen und schaffen es auf diese Weise, die zuweilen nicht sofort sich erschließenden Gedichte auf eine Ebene des Verständnisses und der Nachvollziehbarkeit zu bringen. Am Klavier lässt der erst 23-jährige Georg Richardsen noch eine weitere Stimme sprechen und flicht mit dieser eine wunderbare, mit feinem Humor gespickte Leichtigkeit in das Programm hinein. Man hätte noch stundenlang diesem Ensemble zuhören können, noch tiefer eintauchen können in die Welt der Poesie, die erfrischenden Fluten der Sprache, die eine nie endende Quelle ist und bleiben wird. Kann es etwas Unterhaltsameres, Geistreicheres geben als diese Gedichte? Man wünscht sich einen Deutschunterricht, der Kindern auf eine solche Weise nahebringt, was „der Dichter uns sagen will“ - ganz ohne „Kopfakrobatik“, wie sie in einer der ersten Szenen aufs Korn genommen wird. Oh wunderbare Tage, die sich durch Gedichte retten lassen!