Spannung bis zuletzt: Mit dem Motto „#Wir“ hatten die Juror* innen vom Gautinger Literaturforum Autor*innen im Lockdown dazu animiert, ihre Texte einzureichen – anonym. Fünf vom insgesamt 502 eingereichten Texten wurden bei der großen Feier „Gautinger Literaturwettbewerb“ im bosco am Freitagabend prämiert. Die jüngste Dichterin war gerade mal acht Jahre alt – und hatte die Jury mit einem Kurz-Gedicht begeistert: „Es war einmal ein Wir. Das Wir gehörte dir, weil wir uns gestritten haben. Warum? Das kann ich nicht sagen. Eines Tages kam es zurück und sagte: Rück‘ mal ein Stück.“
Rote Scheinwerfer beleuchten die bosco-Bühne: Coronabedingt ist der Saal bei der verschobenen 5. Literatur-Preis-Verleihung locker für etwa 60 Zuschauer*innen bestuhlt. Doch „vor wenigen Wochen hätten wir uns das noch gar nicht vorstellen können“, sagt Werner Gruban von der Jury.
Mit dem Titel „#Wir“ traf der Leiter des Gautinger Literaturforums jedenfalls den Nerv der Zeit. 502 anonym eingereichte Texte hatte die siebenköpfige Jury zu sichten.
„Kurz und pfiffig“ hatte die Gautingerin Martha Trommer (8) das Elend dieser Pandemie mit Kontaktverbot in ihrem Gedicht „Es war einmal ein Wir…“ komprimiert, würdigte Werner Gruban das Werk der Achtjährigen. Unter Publikums-Applaus betrat die Freude strahlende Martha die Bühne – und erhielt die Urkunde mit dem Gautinger Literatur-Preis in der Kategorie Kinder.
Pianistin Halina Bertram bezaubert zwischen den Lesungen mit verträumten Klavier-Stücken von Erik Satie.
„Der Stern irrt sich“: Das Publikum hält den Atem an, als Sprecherin und Schauspielerin Katja Schild diese spannende Erzählung liest: Eine junge Frau, „die keinen anderen sieht als sich selbst“ beschließt: „Ich werde mir das Leben nehmen.“ Im Lift zum 12. Stock steigt eine Andere zu – die die Einsame wahrnimmt, deren Kleid, deren Haar-Pracht. Statt in den Abgrund zu springen löst die junge Frau oben im Wind ihren Zopf: „Ich nahm einen tiefen Atemzug…“
Ein ergreifend, „magisch-lyrischer“ Text von einer jungen Frau, die ihren Freitod vorbereitet – und sich doch nach dem „melodischen Atemzug“ einer anderen sehnt, so Laudatorin Andrea Pfannes. Sheeren Sayda, die Autorin, ist per Video ins bosco zugeschaltet: Die bildhübsche gebürtige Syrerin (21), Abiturientin aus Hamburg – will Journalismus studieren. Das könne er ihr nur wünschen, gratuliert Werner Gruban zum absolut gelungenen Text „Der Stern irrt sich.“ Sheeren Sayda erhielt dafür den Preis in der Kategorie Jugend.
„90 Tage“ in Kuba, eingesperrt mit einem Du in einem Zuhause, wo einen die Hitze erschlägt, die Luft steht, beschreibt Marlies Pahlenberg minuziös ihren Zwangs-Aufenthalt. 100 Tage Quarantäne auf Kuba „ohne Internet“ hatten sie zu diesem Text inspiriert, verrät die anwesende Autorin ihr Bilderrätsel vom einsamen Ich und Du, das – vielleicht – zu einem gemeinsamen Wir findet: Marlies Pahlenberg aus Berlin, „die schon sehr lange schreibt“, aber noch nie an einem Wettbewerb teilgenommen hatte, erhielt dafür den mit 250 Euro dotierten dritten Preis.
„Lockdown“: Katja Schild liest die Geschichte vom Alptraum des kleinen Robin, der an der Hand seiner Mutter durch den Supermarkt zieht – und „magische Dinge“ erlebt. Etwa die erstarrte stolze Fliegenkönigin, die auf ihrer goldenen Dose mit der feurig scharfen Gulaschsuppe „thront.“
Robin blickt auf starre, steife verstaube reglose Menschen wie die Kassiererin, hört eine weibliche Tonband-Stimme: „Wir danken Ihnen für Ihren Besuch.“ Auf der Suche nach seiner Mutter trifft das Kind auch unter freiem Himmel nur auf erstarrte Lockdown-Menschen… Da erblickt Robin eine Spinnenmutter, die ihr Netz um den Samen auf einem Ahornblatt spinnt: Im Innern des Kokons „sind gelbe, weiche Eier, eng und zärtlich aneinandergeschmiegt, von der Spinnenmutter sanft geschaukelt.“ Die Szene zaubert dem Kind ein ängstliches Lächeln ins Gesicht…
Diese gelungene Erzählung „zieht einen sofort in seinen Bann“, erklärt Laudatorin Anna Fichert – und erinnere sie an Kafkas „Verwandlung.“ Der Verfasser ist per Video aus Ettlingen bei Karlsruhe zugeschaltet: Peter Friedrich, Stipendiat des deutschen Förderkreises für Schriftsteller Baden-Württemberg, gewann mit „Lockdown“ den zweiten Preis.
Pianistin Halina Bertram verzaubert mit der „Träumerei“ von Claude Debussy: Katja Schild liest zum Finale die anonym eingereichte Geschichte des ersten Preisträgers oder der ersten Preisträgerin: „Sand. Zwischen den Ästen die Hängematte, vorne der Horizont: Da ist Afrika. Dein Schatten auf dem Strand…Verzweifelte Gespräche: Nächstes Jahr werde ich nicht mehr da sein. Lass‘ uns Zikaden zählen…Wie viele Stern zählst du an der Milchstraße?‘, fragt das „Walross“ an seiner Seite, „das nicht kämpfen will…“
Es ist die mitreißende „Kaleidoskop“-Erzählung des Abschieds von einem geliebten Menschen, den es nur noch in der Erinnerung gibt, würdigte Buchhändlerin Luitgard Kirchheim von der Gautinger Jury diesen grandiosen, ergreifend komponierten Text:
Verfasserin ist die Schriftstellerin Jennifer de Negri – und damit Gewinnerin des diesjährigen Gautinger Literaturwettbewerbs.