Am Anfang ist es nur eine kurze Irritation: als Bruno und Sonja aus dem Kino kommen und den Abend noch kurz bei einem Glas Wein ausklingen lassen wollen, ploppt auf Brunos Handy eine SMS auf. Sie kommt von Erik und Jana, einem befreundeten, etwas jüngeren Paar. In knappen Worten kündigt Erik, auch im Namen von Jana, dem anderen Paar die Freundschaft auf und fügt noch hinzu, das müsse auch nicht mehr diskutiert werden. Zunächst halten Sonja und Bruno die Nachricht für einen schlechten Scherz, doch als keine anders lautenden Zeichen eintreffen, beginnen sie zu mutmaßen, zu analysieren, bald schon zu streiten. Wer sind die anderen, wer sind sie beide selber, und was haben sie einander in den siebzehn Jahren ihrer Freundschaft - und in ihren Ehen - angetan, verheimlicht, anvertraut, zugemutet? Und was alles davon ist die Wahrheit?
Dass es in dem Theaterstück von Lutz Hübner und Sarah Nemitz nicht um die eine, allgemein gültige Wahrheit geht, zeigt schon der Titel: „Die Wahrheiten“, ein Auftragswerk für das Staatstheater Stuttgart aus dem Jahr 2020, ist im bosco in einer Produktion des Metropol Theaters zu sehen, inszeniert von Jochen Schölch. Schölch stellt, zusammen mit Bühnenbildner Thomas Flach, das Drama um Kommunikationsverlust und Machtmissbrauch auf die Drehbühne und damit auf einen per se nicht festen Boden. Das Bild ist auf eine mit länglichen, nüchternen Quadern angedeutete Sitzgruppe reduziert, dem Zentrum häuslicher Kommunikation, das zur einen Seite hin im ersten Bild Raum für das Gespräch zwischen Bruno und Sonja bietet, im zweiten Bild mit der anderen Seite zum Sofa bei Erik und Jana wird und auf diese Weise die andere Seite des Konflikts zeigt. Das dritte Bild schließlich rückt den Kommunikationsort in den öffentlichen Raum: eine Parkbank, ein urbaner Platz mit Sitzmöglichkeiten.
Immer wieder werden die Perspektiven gewechselt, wird aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet, was zu diesem radikalen Bruch zwischen den beiden Paaren, den vier Freunden geführt hat: eine viel zu lange verschwiegene Demütigung, ein Nicht-Wahrhaben-Wollen einer Missbrauchserfahrung, ein falsch gedeutetes Verhalten und damit einhergehend ein von den Beteiligten nicht bemerkter Machtmissbrauch. Die Ursache dafür, dass diese schwerwiegenden Verletzungen so lange unbenannt blieben, ist die Sprache: die Kommunikation zwischen den Männern und Frauen, aber auch zwischen den Freunden war gestört, fand auf verschiedenen Ebenen statt, war nicht kompatibel.
Ausdruck für die gestörte Kommunikation ist schon die SMS, die zum Auslöser für die einsetzende Dynamik wird - ganz so, als sei sie der Motor für die Drehscheibe, die ihrerseits zum Sinnbild für die Beschleunigung der Offenbarungsprozesse wird. Wie in einer Trommel prallen die als verschieden wahr-genommenen Wahrheiten aufeinander, bis am Ende Jana beinahe hinausgeschleudert wird, als sie versucht, trotz einer immer schneller werdenden Drehbewegung ihre Position in dem Vierergeflecht zu behaupten.
Mara Widmann spielt Jana als eine bis vor kurzem noch in stereotypen Mustern gefangene junge Frau, bei der aufgrund einer äußeren Mitteilung das bisher in ihr abgekapselte Missbrauchserlebnis wie eine Wunde aufbricht und sie die Verletzung spüren lässt; nur mühsam kann sie sich beherrschen, versucht bis zur Schmerzgrenze nachzuspüren, warum sie bisher immer nur bei sich selbst die Schuld gesucht hat. Leo Reisinger ist ihr Mann Erik, ein auf den ersten Blick einfühlsamer, empathiefähiger Zeitgenosse, der seine eigenen Schwächen jedoch für sich überzeugend zu entschuldigen versteht und nciht wirklich begreifen kann, wie wenig er seine Frau tatsächlich versteht. Katharina Müller-Elmau lässt ihre Sonja als äußerst beherrscht wirken, eine eher kopfgesteuerte Frau, die ihre Gefühle jedoch immer weniger unterdrücken kann, vor allem hinsichtlich der Beziehung zu ihrem Sohn, ihrer personifizierten Lebenslüge. Ihr Mann Bruno wird von Michele Cuciuffo als „alter weißer Mann“ gezeichnet, der mit klassischen Rollenmustern aufgewachsen und als solcher zu kommunizieren gewohnt ist. Konfrontiert mit dem von ihm ausgeübten Machtmissbrauch, reagiert er zutiefst irritiert - sein Weg heraus aus den ihn einschränkenden Stereotypen ist nicht weniger weit als der von Jana hin zu einer freien, selbstbestimmten Persönlichkeit.
Was als Gesellschaftskomödie begann, im scheinbar unterhaltsamen Ton, entwickelt sich mehr und mehr zu einem Psychodrama mit hohem Identifikationspotential. Ein Abend, der unter die Haut geht.