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Veranstaltungsinfo

Mi, 19.10.2022
20.00 Uhr
Schauspiel

32,00 / 15,00

Regulär / bis 25 Jahre

Schubert Theater Wien: „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“

Ein paar Jahre ist der Leiter der Schauspiel-Reihe Hans-Georg Krause hinter einem Termin mit Nikolaus Habjan hergelaufen: Wiener Burgtheater, Bregenzer Festspiele oder die Bayreuther Festspiele waren zunächst erfolgreicher, aber jetzt hat es geklappt und darauf sind wir besonders stolz!

Bekannt wurde Habjan mit seinem ungewöhnlichen und gewagten Projekt, das er gemeinsam mit Simon Meusburger, dem Leiter des Wiener Schubert Theaters realisierte. Sie verarbeiteten eine reale Geschichte. Friedrich Zawrel wurde in der NS-Diktatur in der Wiener „Kinderfachabteilung“ Spiegelgrund von dem Anstaltsarzt Heinrich Gross als „sozial minderwertig“ eingestuft und sadistischen Experimenten ausgesetzt. Jahre später traf Zawrel erneut auf seinen einstigen Peiniger. Jener Mann, der das Leben so vieler Kinder zerstört hatte, führte seine Karriere als Gerichtspsychiater auch nach dem Krieg unbescholten fort. Der Fall sorgte international für Aufregung: Erst 1997 kamen die «Euthanasie»-Morde von Gross zur Anklage, der Prozess zog sich allerdings wegen angeblicher Demenz des Beschuldigten so lange hin, bis dieser 2005 verstarb. Postum wurde Dr. Gross sein „Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse“, mit dem er 1975 vom Staat geehrt wurde, aberkannt.

Das Stück „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ entstand in enger Zusammenarbeit mit Zawrel selbst. Der Abend ist eine ungewöhnliche Mischung, er ist brutal und humorvoll zugleich. Wenn Gross im Stück das Ehrenkreuz überreicht bekommt, fischt Habjan die Medaille aus einer Schale, in die das Gehirn eines Kindes eingelegt ist. Bei der Premiere lachte ein älterer Herr im Publikum lauthals, was beim Rest des Publikums für empörte Reaktionen sorgte. Es war Zawrel selbst, der diese Szene besonders liebt. Während einer anderen Vorstellung begann eine Frau an dieser Stelle zu weinen. Zawrel tätschelte ihr den Arm und versuchte sie zu trösten: „Weinen S’ net, i hab’s eh überlebt!“ (THEATER HEUTE).
Die Puppen erweisen sich als ideal zur Darstellung einer Biografie, weil sie dem Zuschauer Freiraum lassen. Wie Habjan das Stück alleine bewältigt, wie sanft er mit seinem Puppenfreund Friedrich umgeht, ist große Kunst. Dafür bekam die Produktion den begehrten österreichischen Nestroy-Preis, zahlreiche Einladungen ans Burgtheater und andere große Theaterhäuser. Habjan durfte die Bregenzer Festspiele eröffnen und war heuer Gast der Bayreuther Festspiele.

"Wie sanft Habjan mit seinem Puppenfreund Friedrich umgeht, ist große Kunst. Das vielleicht Erstaunlichste jedoch ist der Humor des alten Mannes. Er will keine Rache, ist nicht bitter, sondern zutiefst menschlich." NÜRNBERGER NACHRICHTEN

Buch NIKOLAUS HABJAN & SIMON MEUSBURGER
Regie SIMON MEUSBURGER  
Puppendesign und -bau NIKOLAUS HABJAN
Kostüm LISA ZINGERLE
Spiel NIKOLAUS HABJAN

Einführung 19:15 Uhr
Dauer 2 Std., keine Pause

 

Gefördert von:

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Aufführung im Rahmen des Internationalen Figurentheaterfestivals Wunder.

Nach(t)kritik
Gegen das Vergessen
Nach(t)kritik von Sabine Zaplin

„Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen?“, erklärt der alte Mann mit Nachdruck, „ich bin seit längerem schwer dement. Ich kann mich wirklich nicht erinnern.“ Diese Demenz, die den alten Mann befallen hat, steht stellvertretend für jene fast kollektive Erinnerungslücke, von der sehr viele Menschen betroffen waren, die in den Jahren 1933 bis 1945 in leitenden und vor allem Entscheider-Funktionen in Deutschlan dund Österreich tätig waren. Sie alle verband die Tatsache, sich nicht mehr erinnern zu können an Dinge, die ihnen vorgewurfen wurden.

Besagter Herr beispielsweise war Stationsleiter der sogenannten „Reichsausschuss-Abteilung“ an der Wiener Euthanasie-Klinik Am Spiegelgrund - und schon das Wort „Ausschuss“ bietet genügend Anlass zum Erinnern. Denn Heinrich Gross, so der Name des Stationsleiters, entschied darüber, welche der in der Klinik internierten Kinder zum Ausschuss gehörten - zu jenen, deren Weiterleben für die nationalsozialistische Gesellschaft von keinem Wert war, die also nur Kosten verursachen würden und die darum zu vernichten waren.

Eines der Kinder, die Heinrich Gross zu jener Zeit aussortierte, war der damals Vierzehnjährige Friedrich Zawrel. „Erbbiologisch und sozial minderwertig“, lautete der Stempel, der ihm aufgedrückt wurde: Friedrich stammte aus ärmlichen Verhältnissen, wuchs in Pflegefamilien und verschiedenen Heimen auf und fiel auf, weil er aufgrund von Demütigungen durch weniger vernachlässigte Kinder die Schule schwänzte. Später geriet er in Versuchung, ein herumliegendes Wehrmachts-Proviantpäckchen zu stehlen, um seinen permanenten Hunger zu stillen. Als Sohn eines vorbestraften Alkoholikers wurde ihm von Ärzten wie Heinrich Gross eine negative Perspektive für seinen weiteren Lebensweg bescheinigt - er zählte zum Ausschuss.

Den Stempel behielt Friedrich Zawrel auch nach dem Krieg, so dass es ihm schwerfiel, Fuß zu fassen. Ein weiteres Eigentumsdelikt führte zur Verurteilung und zu einem Prozess im Jahr 1975, wo ihm als Gerichtspsychiater ausgerechnet Heinrich Gross gegenübersitzt, der mittlerweile ein sehr begehrter Gerichtspsychiater und zudem anerkannter Hirnforscher ist. Was niemand weiß: die Forschungsergebnisse von Heinrich Gross, für die dieser prominent ausgezeichnet wurde, basieren auf seiner Tätigkeit während des Dritten Reiches. Damals hat er jenen Kindern, die er zum „Ausschuss“ erklärt und durch medizinische Experimente umgebracht hat, die Gehirne entnommen, um an diesen zu forschen. Erst die Begegnung mit Friedrich Zawrel im Jahr 1975 deckt die Machenschaften von Heinrich Gross auf. Und spätestens von diesem Moment an beginnt bei diesem das große Vergessen.

„F.Zawrel - ebrbiologisch und sozial minderwertig“, heißt die Puppentheaterproduktion, mit der Nikolaus Habjan die Lebens- und Leidensgeschichte des Friedrich Zawrel vor dem Vergessen rettet. In zahlreichen Gesprächen mit Zawrel und in enger Zusammenarbeit mit diesem ist ein bedrückend dichtes Kammerspiel entstanden, in dem der Zeitzeuge Friedrich Zawrel in hohem Alter in Gestalt einer lebensgroßen Klappmaulpuppe dem Puppenspieler Habjan seine Geschichte erzählt. In Rückblenden lässt Habjan das Kind Friedrich - ebenfalls in Gestalt einer Puppe - die Zeit in der Klinik Am Spiegelgrund noch einmal erleben. Es geht einem beim Zuschauen unter die Haut, das Kind, das die unmenschlichsten Experimente wieder und wieder erleiden muss, fragen zu hören: „Warum macht ihr das mit mir?“

Dieser Frage geht Nikolaus Habjan mit sparsamen Mitteln und darum umso eindrucksvolleren Theatermomenten nach. Am Ende bleibt Wut und die Erkenntnis, dass gegen Menschenverachtung nur eines hilft: bedingungslose Menschenliebe.

Galerie
Bilder der Veranstaltung
Mi, 19.10.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.