Wer´s verpasst hat am Samstag im Bosco, dem sei am Dienstag im ZDF „Die Anstalt“ empfohlen: Nils Heinrich, Wahl-Berliner aus Sachsen-Anhalt, ist drauf und dran, die deutschsprachige Kabarett-Landschaft aufzufrischen. In Gauting kam das Corona-dezimierte Publikum gleich zwei Mal in den Genuss seines Programms „Aufstand“ – am Nachmittag um 17 Uhr „zur Kindervorstellung“, wie Heinrich ablästerte, und ab 20 Uhr waren dann „die Erwachsenen dran“. Mit dem insgesamt gut dreistündigen Marathon wurde ein Termin nachgeholt, der „ohne das Virus“ noch als Gesamtkunstwerk vor vollem Saal geplant war.
Zwischendurch, so der 49-Jährige, der sich und seine Frau als Eltern zweier Kinder und "um die 40“ beschrieb, musste der Ärmste noch die erwähnte ZDF-Sendung aufzeichnen und „wahnsinnig viel Text lernen“. Bei allem Leidensdruck war dem erfrischenden Nils freilich auch anzumerken, dass der Ritterschlag „Anstalt“ für ihn so etwas wie den endgültigen Aufstieg in die 1. Liga bedeuten könnte: Selten hat ein Kabarettist im Bosco anderthalb Stunden am Stück (Pausen und Getränkeaufnahme sind ja bis auf Weiteres abgeschafft) derart zu fesseln vermocht, indem er ein pedantisch-genaues Augenmerk auf seine Mitmenschen richtet. „Das ist nicht die NSA, das bin ich!“, stellt Heinrich klar, wenn er mal wieder „korrigierend“ eingreift in aus seiner Sicht beanstandungswürdige Verhaltensmuster. Dann kann es passieren, dass er den Anderen noch eine Packung Cornflakes in den Einkaufswagen schmuggelt und dazu einen Zettel hinterlässt: „Ein Freund, der es gut mit Ihnen meint“. Die geradezu sinnliche Lust des Nils Heinrich, sich auf die kleinen Ungereimtheiten im Leben (der Anderen) zu stürzen und darin herum zu bohren, ist ansteckend. Die Dauernd-aufs-Smartphone-Glotzer werden da wie nebenbei abgefertigt: „Oh, ein QR-Code? Ach nee, ein Dalmatiner!“ Es sind die vielen Unübersichtlichkeiten, das Analphabetentum der durchdigitalisierten Neuzeit, die ihn faszinieren. Der „Soja-Wahnsinn“ im Bio-Markt, das Überangebot an Milchprodukten, ausdrücklich legitimiert vom „Europäischen Molkereigerichtshof“. Hilflose Männer vor riesigen Regalen, in denen „Joghurt von sich selbst verwaltenden veganen Kühen aus der Uckermark“ angeboten wird. Alles ist dem Nils ein bis zwei Nummern zu trendig, zu überkandidelt, zu absehbar in seiner Neo-Spießigkeit, und so badet er genüsslich in seiner Abrechnung: „Jeder Schulhausmeister hat heute Schlüsselringe an den Nippeln“, bürstet er die allseits Tätowierten und Gepiercten ab. Und auf den Spielplätzen seines Berliner Viertels regieren die Drei-Kind-Paare („Man sieht am Blick, wer die Idee nicht hatte“, die ihren Nachwuchs nicht ohne Helm auf die Wippe lassen. Gesprochen wird zumeist russisch und die Schaukel wird auch nicht mehr freigegeben: „Reicht es nicht, dass ihr die Krim okkupiert habt?“, entfährt es dem frustrierten Großstadt-Papa.
Heinrich ist richtig gut, wenn er die Grundhaltung des ausbalancierten, abgeklärten Middle-Agers verlässt und sich in Rage steigert. Doch als gesungene Konsequenz aus all den Zumutungen kommt nicht etwa erwartbarer Protest, sondern ein Song namens „Angst“, der es den Zeitgenossen so richtig aufs Vollkornbrot schmiert: „Die Leute haben Angst vor den völlig falschen Sachen“, sagt er und zupft dazu eine resonanzkörperlose Gitarre, "Modell Facharbeitermangel“. Besonders schön bei dem gebürtigen Ostdeutschen ist seine Sehnsucht nach „früher“, die er ebenfalls besingt und die sich eben nicht nach verklärender DDR-Nostalgie anhört, sondern nach Außen-Klo und gefrorenem Stuhlgang: „Wir haben 40 Jahre lang eingeweckt, bis Gorbatschow uns aufgeweckt hat.“ Der Überwältigung, besser: Vergewaltigung des Traditionellen durch die alles und jeden abfilmenden Dokumentierwütigen der Neuzeit hat Heinrich eine wunderbar eskalierende Nummer gewidmet, bei der er ein Krippenspiel zu Weihnachten nicht mehr aus erster Hand, sondern nur noch durch das Display einer hysterischen Oma in der Kirchenbank vor ihm erleben darf – da wäre jetzt aber ein Aufstand fällig, fordert Nils, aber keiner traut sich im Kirchenschiff.
Ja, die mittlere Generation der Angepassten beschäftigt ihn wie ein Spiegelbild: Will man alles ökologisch richtig machen im Obstladen, gilt man schnell als „gestörter Apfelflüsterer“, spart man daheim Strom, ist man für die Kinder der „Licht-Nazi“. Die Besitzer völlig deplatzierter Pick-Up-Trucks reizen ihn aber genauso: „Ich glaube, wir haben viele Förster in unserer Straße.“ Oder: „Der Meeresspiegel steigt – wir bauen die Autos höher!“ Da sind dann wieder Zettel fällig, sanfte Korrekturen, von einem, „der es gut mit Ihnen meint“. Starker Applaus im Bosco für ein wunderbar kompaktes Programm, das sich die Generation „40 plus“ und ihr omniveganes Sicherheitsdenken so vorknöpft, wie es noch kaum einem gelungen ist – die Botschaft: Hör auf, den Joghurt Kontrolle über dein Leben gewinnen zu lassen!