Was ist das Leben? Ein Rauschen im Blätterwald? Ein Schlagwortregister? Oder eine analoge Geschichte in plakativen Parolen? Selten war das Duo „Ohne Rolf“ so tiefgründig philosophisch wie im aktuellen Programm „Jenseitig“, in dem alle auf- und umgeblätterten Sätze um die Frage nach der Endgültigkeit kreisten und darum, was von unserem Leben sich in Worte fassen und somit festhalten lässt.
Zerknüllte Blätter liegen auf der Bühne, als Christof sie allein betritt. Einige Plakate sind an den rückwändigen Vorhang gepinnt, darauf stehen Sätze wie „Du hast geschätzt einen ganzen Baum verblättert.“ Christof trauert, um Jonas, seinen besten Freund. Jonas ist tot. Und auch Christof möchte nicht mehr leben. Doch wie hängt sich ein Blattländer auf, dem nichts als Papier zur Verfügung steht und ein schwarzer Plakatständer? Über seine vergeblichen Bemühungen, dem Freund nachzufolgen, wird dieser sichtbar - denn Christof kann ihn nicht gehen lassen.
Und so entspinnt sich, ganz nach Blattländer Art, ein Dialog über Trauer und Verlust und darüber, in welcher Gestalt gemeinsame Erinnerungen bleiben. Da entsteht, von kurz aufblendenden Spots eingerahmt, ein Fotoalbum gemeinsamer Erlebnisse von der Kindheit bis zum frühen Tod des Freundes. Da entpuppen sich scheinbar sinnlose Satzfragmente als der zweite, übriggebliebene Teil gemeinsamer Gags, deren erste Hälfte mit Jonas verschwunden ist. Und da tauchen Momente des gemeinsamen Weges auf, der auch mal auf Demonstrationen führte mit Plakaten wie „Blatt Lives Matter!“
Kommunikation ist Leben, davon erzählt nicht nur dieses neue Programm der Luzerner Künstler Jonas Anderhub und Christof Wolfisberg. Die beiden haben seit achtzehn Jahren eine ganz besondere Form des Bühnenauftritts entwickelt, die längst zu ihrem Markenzeichen geworden ist: ihr Dialog entspinnt sich in gedruckten Sätzen auf weißen Plakaten durch Umblättern, das mal verzögert, mal rasch vonstatten geht - wie beim Gespräch eben. Hier fallen keine Worte, hier werden sie entblättert. Dabei werden so viele Subtexte mit aufgedeckt, wie sie manchmal im Sprechen gar nicht erkennbar werden können. Und zugleich ist diese Form der Interaktion eine Hymne auf das Lesen, auf die Schrift. „Du bist der Accent egü auf meinem Apéro“, heißt es auf einem Blatt in der Abschiedsrede auf den verstorbenen Freund, und es ist einer dieser Sätze, die man am liebsten in Stein meißeln möchte. Als dann auch noch die beiden jeweiligen Gottesvorstellungen dem jeweils anderen sichtbar werden, wird der Abend noch einmal auf eine ganz andere Ebene gehoben. Macht erst der Glaube das Bild? Gibt es ohne Bild gar keinen Glauben? Und was geschieht mit all diesen Bildern, wenn die Zeit des Glaubens vorüber ist? Wenn das ganze Leben auf Papier gedruckt ist, kann man seinen Ärger auch nur noch mit einem Schluck Konfetti hinunterspülen, ehe man am Ende womöglich als Papierschnipsel aufgesaugt wird.
„Jenseitig“ ist ein Programm, das sehr gut in die Zeit passt, sowohl jahreszeitlich in den Kontext der Novemberfeiertage als auch in das gegenwärtige Weltgeschehen. Selten wurden so viel Gedankenanstöße aufgeblättert.