Dass Prof. Joachim Kunstmann diesmal die avisierten zwei Stunden Vortrag deutlich überzog, dürfte am für ihn „spannendsten Thema, das ich überhaupt kenne“, gelegen haben: „Heil & Heilung“ bündelte gewissermaßen den aktuellen Stand von mehr als 2000 Jahren Philosophie und Medizin sowie von gut 100 Jahren Psychoanalyse, nicht mitgerechnet die Wirkungsgeschichte der Religionen – man war, wie sich an den vielen Wortmeldungen aus dem Publikum ablesen ließ, beim „modernen Menschen“ und seinen Problemen angekommen. Der „zeitgenössische Pilger“ also, er muss als Voraussetzung fürs „heil“ Werden zunächst einmal „unsicher genug sein, um geistig wachsen zu können“, lautet die allgemeine Therapie-Erkenntnis im Grunde schon von Alters her. Der Mensch von heute freilich hat da etwas missverstanden, führte Kunstmann aus: Er nimmt das, was ihn plagt, nicht an, sondern negiert es und „will ein erfolgreicher Neurotiker sein.“ Der amerikanische Psychotherapeut Sheldon B. Kopp empfahl 1974 in seinem Kultbuch „Triffst du Buddha unterwegs...“ (If you meet Buddha on the road, kill him!), der Mensch möge aus sich selber schöpfen, aus dem Konzept einer inneren, individuellen Gewissheit, anstatt einer von außen angebotenen Religion oder womöglich gar deren Führern zu folgen. „Das Gefühl, seelisch reifen zu müssen“, C.G. Jung benennt dieses „Geheimnis des Lebens“ als „Individuation“: Es gelte, sich selbst kennen zu lernen und „dem eigenen Schmerz zu begegnen“.
Prof. Kunstmann stellte hierzu fest, dass unsere Zeit eher darauf gepolt sei, „dass es gar keine Schmerzen mehr geben darf“. Pillen, Drogen, Wegsperren, Verdrängungsmechanismen und Tabuisierung an Stelle von Begegnung mit sich selbst. „Angst vor dem Nichtabgesichertsein“ sei hierfür die Ursache, woraufhin eine Zuhörerin einwandte: „Brüche und Schmerz gehören doch zum Leben dazu!“ Der Begriff „heil“ leite sich ab vom Altgermanischen und bedeute ursprünglich so viel wie „im Kampf nicht verwundet“, hatte jemand aus dem Publikum herausgefunden. Ein anderer Zuhörer steuerte die Definition bei, „heil“ zu sein sei so etwas wie „ein Baustein zum Erfolg“. Kunstmann kam mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche und zitierte diesen in eigenen Worten: „Man muss in die Abgründe blicken – es kann kein Heil geben, wenn man die Extreme nicht kennt“. Die „Wahl der rechten Mitte zwischen den Extremen“, das führe zum „Heil“ im Sinne von „Ganzheit“, meine damit aber nichts Anderes als Abwägung und Besonnenheit. Asklepios von Epidauros, eine Art Ganzheitsmediziner der Antike, habe es bereits verstanden, „Beinbrüche und Depressionen gleichermaßen“ zu behandeln: Dessen erste Anweisung an die teils von weit her angereisten Patienten lautete: „Träume – und erzähl mir morgen, was du geträumt hast!“ Diese frühe Form der Trauma-Therapie kehre gerade verstärkt wieder, berichtete Kunstmann. Basierend auch auf der Erkenntnis, dass zwischen Arzt und Patient ein Vertrauensverhältnis bestehen sollte, welches es erlaubt, den Ängsten des Menschen auf den Grund zu gehen. Vertrauen, Selbstvertrauen, Zutrauen – es sei gewiss kein Zufall, wenn sogar bei herzkranken Patienten allein durch Placebo-Gabe eine um bis zu 40 Prozent „erfolgreichere“ Behandlung, sprich „Heilungschancen“ zu verzeichnen seien.
Beim Begriff des „metaphysischen Heils“ stoße man indes an Grenzen, so Kunstmann: „Religion kann zwar heilen, das Problem ist aber, dass sie sich immer fokussiert.“ Und zwar auf Gott oder dessen selbsternannte Stellvertreter auf Erden: „Was machen die Priester? Sie ersetzen Gott durch sich selbst!“ kritisierte Kunstmann. Anders gesagt: „Das Schlimme sind immer die Gläubigen“. Diese verweigerten aus schierer Angst den selbst in Gang zu setzenden Prozess der „Heilung“ und Erkenntnis, indem sie sich etwas vorsetzen ließen; sie schlagen nicht den Weg zu sich selbst ein, sondern suchen sich äußere, „übergeordnete“ Instanzen: „Religion kann Gott ersetzen“, lautet ein geradezu ironischer Kommentar dazu. Der Prozess der „Heilung“ bedeute somit nichts Anderes als „die Fähigkeit, mit Angst klug umzugehen“. Die klassische Theorie des „Heils“ hingegen lief laut Kunstmann „über die Satisfaktionslehre“: Erbsünde, Gott erbarmt sich, nimmt in Menschengestalt alle Sünde auf sich und erleidet stellvertretend den Kreuzigungstod. Der spätmittelalterliche Theologe Meister Eckhart lehnte ein solches Konzept geradezu als Frömmelei ab: Am meisten bleibe Gott „draußen“, wenn jemand „viel Religionspraxis“ übe, fasste Kunstmann Eckharts Skepsis gegenüber ritualisierten Formen der Heilssuche zusammen. Martin Luther meinte wohl das Gleiche, als er schrieb: „Das Heil liegt in der Krippe bloß.“
Moderne Philosophen wie Peter Sloterdijk formulieren es so: „Das Heil entsteht durch die Umgestaltung der Welt.“ Wenn aber alles, auch das „Heil“, in der Flucht hin zum Ökonomischen gesucht wird, klingt es wie folgt: „Glückspolitische Aufhebung des noch Anstrengenden“. Ein Zuhörer meinte: „Heil ist doch der Versuch, in eine Harmonie zwischen sich und der Welt zu gelangen.“ Noch mal Sloterdijk, der empfiehlt: Keine Orientierung mehr am „Regulatorischen“! Ist der „Heil suchende“ Mensch also wieder bei sich selbst angelangt? Offenbar. Wenn er merkt, dass „Leiden einfacher als Handeln“ ist, hat er zwei Möglichkeiten: Sich genau darin bequem einzurichten oder aber sich den stets zu Grunde liegenden Ängsten zu stellen. Erst die Erkenntnis: „Was uns weh tut, inszenieren wir selbst“, mache den notwendigen Schritt möglich, nicht die „Umstände“ verantwortlich zu machen für den eigenen Schmerz, sondern sich selbst. Meister Eckart wusste bereits: „Nicht die Dinge sind es, die dich hindern, sondern du selbst bist es, der dich in den Dingen hindert.“ Oder der von einer Zuhörerin ins Spiel gebrachte Novalis: „Was mir geschieht, das will ich.“ Prof. Kunstmann fasste zusammen, den Schweizer Psychoanalytiker Peter Schellenbaum („Die Wunde der Ungeliebten“) zitierend: Alle Geheimnisse liegen in der Kunst des Nachgebens, nicht des Widerstehens.“ Heilung, ein spannender Prozess, der mit der Akzeptanz des Selbst beginnen muss, auch wenn einem dieses Selbst nicht gefällt.