Ein Tango ist wie eine gute Geschichte: beides beginnt mit einem Geheimnis, das sich scheinbar aufzulösen scheint, um dann nach einigen Turbulenzen mit unerwarteten neuen Fragen noch einmal ganz anders wieder aufzutauchen - und nicht selten bis zuletzt ungelöst bleibt. Die vier Musiker von Quadro Nuevo wissen das deshalb so genau, weil sie vor zwei Jahren auf den Spuren des Tango in Buenos Aires unterwegs waren und weil sie diese so dichte, so kaum zu fassende Erfahrung inzwischen in Form von einem großen Tango-Programm verarbeitet haben. Ein Programm, das aus mindestens ebenso vielen Geschichten wie Musikstücken besteht und das gerade den Aspekt des Erzählens - nicht selten mehr in Worten als in Klängen - besonders betont.
Es sind aber auch bezaubernde Miniaturromane, die sich da rund um Buenos Aires und den Tango spannen. Zum Beispiel die Taxifahrer: höchst interessante Personen seien das, die sich da hinter ihren abgewetzten, speckigen Lenkrädern in den zurückgeschobenen Sitze lümmeln, erzählt Bassist D.D. Lowka, der den Taxifahrern ein Stück des Programms gewidmet hat. Als die Musiker von Quadro Nuevo in Buenos Aires nach dem ursprünglichen, dem nicht touristischen, dem echten und zeitgemäßen Tango gesucht haben, waren es vor allem die Taxifahrer, die sie an jene Orte brachten, wo das Abenteuer stattfand. Dazu kam es nicht selten zu spektakulären Wendemanövern über acht Fahrspuren hinweg, was die ohnehin stets stattfindenden Hupkonzerte noch mehr anschwellen ließ - und all das findet sich eben in besagtem Tango wieder, mit dem die vier das Gautinger Publikum mit hinein nehmen in das Taxi und den Straßenverkehr von Buenos Aires.
Es ist ein bisschen, als würden vier Freunde ein großes Fotoalbum aufschlagen und mit den Zuhörern durchblättern. Hier, das war unser Stadthaus mit der rostigen Feuerleiter und dem gigantischen Blick vom Dach herunter auf die Stadt und ihre bis da hinaufsteigenden Rhythmen. Hier war die zerfallene Bretterbude, wo die aufregendste Milonga stattfand, aber erst in dem Moment, als diese wilde Frau hereinkam und Mitternacht und dem einen Mann beim Tanz sämtliche Knochen brach. Und hier war die Straße, in der wir diese noch nie gehörten Stücke entdeckt haben, einfach so, ganz ohne sie gesucht zu haben.
„Tango“, heißt das Programm schlicht, und selten war Nomen deutlicher Omen. Die tangoroten Bäume vor den großen Fenstern des Saals können es bezeugen: es war, als hätte Argentinien einen Atemzug hierher geschickt. Viel haben sie mitgebracht von ihrer Reise, und für Andreas Hinterseher hat sich beinahe das ganze Leben geändert, seit er Konzerte wie dieses auf einem Bein stehend verbringt, mit kantigem Gesichtsausdruck und statt eines Akkordeons das Bandoneon auf den Knien (im zweiten Teil packt er dann doch auch mal kurz das Akkordeon aus). Chris Gall ersetzt mit dem Piano jede Singstimme und lässt die längst verstorbenen - teils unter dramatischen Umständen verunglückten - argentinischen Tangosänger wieder auferstehen. Und Muli Francel kommentiert die ganze Reise mit ungeheurer Lässigkeit und einer guten Prise Humor auf seinen Saxophonen und der Klarinette. Das kann nur Musik: die Dimension Raum einfach mal aufheben für zwei Stunden und das ganze bosco zu einer Stadtvilla in Buenos Aires machen.