Zu den zentralen Eigenschaften der jungen Pianistin aus China zählt zweifelsohne die Sicherheit. Vor allem im Zugriff, der jedem Komponisten des Programms jeweils ein klar gezeichnetes Profil zuwies. Sa Chen ließ Zweifel erst gar nicht aufkommen. Obgleich enge Beziehungen zwischen den Werken bestanden, hielt Sa Chen ihre Charakteristika bis ins Detail deutlich auseinander. Wie auch sonst ihr Spiel geradezu auf Klarheit ausgelegt ist. Dass ihr dies in so ausgeprägtem Maße und absolut transparent möglich ist, verdankt sie in erster Linie wohl ihrer grandiosen Technik, die ihr schier endlose Konstellationen der Differenzierung eröffnet. Ihre Pedalarbeit ist dabei überaus feinsinnig und höchst gewandt eingesetzt, ließ nie etwas verschwimmen, verlieh Klangrundung, ohne zu verwässern.
Aber auch was die Klanggestaltung und Musikalität betrifft, holte Sa Chen eine Menge aus dem Flügel heraus – vor allem an Klangsubstanz, die immer auch wohlproportioniert und in sich stimmig zum Tragen kam, selbst wenn sie ein diffuses harmonisches Bild abzugeben hatte, wie in den drei Stücken der Images Livre II von Debussy, die wunderbare Beispiele impressionistischen Einfangens von momentanen Stimmungen sind. Sa Chen wahrte auch den Charakter des flüchtigen Augenblicks, wie ihn die Maler der Epoche zu einer nachhaltig so begeisternden Stilistik entwickeln konnten. Chopin hätte zweifelsohne nach seinen Diskussionen an der Seite von George Sand mit dem Maler und Wegbereiter des Impressionismus, Eugène Delacroix, über den Ausdrucksgehalt der Farbe sein Prélude op. 45 wohl auch in dieser Art komponiert, wäre die harmonische Kühnheit Debussys nicht noch zu verfrüht gewesen. War das Genannte tatsächlich der Hintergrund der Werkentstehung, dann hatte Chopin dennoch die Möglichkeiten seiner Zeit doch schon mehr als ausgereizt – mit seiner unentwegten Modulation und diversen Varianten der Tonartwechsel. Sa Chen deutete diesen Zusammenhang jedenfalls an, blieb jedoch bei der eigentümlichen Sprache Chopins, die sich auch deutlich von der Debussys aus der Frühzeit unterschied. Dessen „Rêverie“ von 1890 hatte zwar immer noch die Klarheit der Romantik im Blick, dennoch schon eine viel feiner nuancierte Farbigkeit immanent.
Der Farbenreichtum war denn auch ein wichtiges Thema des Abends. Das galt für César Franck gleichermaßen. Seine Herkunft war in dessen „Prélude, choral et fugue“ von 1884 jedoch anderer Provenienz. Dessen war sich die Pianistin absolut bewusst und dachte durchaus von der Orgel her mit. Eine gewisse mechanische Eindringlichkeit musste daher der pianistischen Brillanz vorangestellt werden. Die großen Dimensionen im Zugriff machten den Kontext eben im Ausdruck hörbar. Und dennoch: Bei aller barocken Provenienz blieb die Pariser Eleganz des 19. Jahrhunderts deutlich spürbar.
All diese Elemente hatte der chinesische Komponist Xiaohan Wang (geb. 1980) nachvollziehbar verinnerlicht. Die Suche nach Vollkommenheit und harmonischem Wohlklang verlieh seiner „Inspiration by Chinese Painting“ von 2004 ein stark impressionistisch anmutendes harmonisches und klangliches Gefüge, wenn es auch immer wieder atonale Würzung erfuhr. Nachdem Debussy auf asiatische Vorbilder zurückgegriffen hatte, war hier daher von vorne herein eine inhaltliche Einheit garantiert.
Anders als bei Rachmaninow, dessen Sonate op. 36 sich an Chopin orientierte. Ihr Reichtum an Harmonien verweist ebenfalls auf eine gewisse Auflösung fester Gefüge hin, um sich allerdings sogleich zu einer festen Form zusammenzuballen. Sa Chen meisterte das Auf und Ab zwischen zartnuancierter Luftigkeit und monumental-virtuosen Verdichtungen sehr klug und den Parametern brillanter Pianistik folgend, bis hin zum furiosen Finale. Der Schlussapplaus hielt lange an, belohnt mit zwei Zugaben. Dennoch: Angesichts des perfekten, grandios virtuosen Vortrags vermisste man die frenetischen Ovationen.
REINHARD PALMER