Was hätte Molière wohl dazu gesagt? Gut 350 Jahre nach der Uraufführung von Tartuffe ist der Stoff heute so brisant wie einst. Heuchelei, Gier und Macht, gepaart mit der Überzeugung, sich stets nehmen zu können, was gerade gefällt, skrupellos und ohne jede Moral, sind nach wie vor die großen Themen unserer Zeit. Man muss nur morgens die Zeitung aufschlagen. Wie traurig und gleichzeitig wie gut, dass das Schauspiel Wuppertal dem Publikum es selbst überlässt, ob es diese Botschaft mit nach Hause nehmen möchte. Oder doch lieber den Eindruck eines locker-leichten Lustspiels mit Happy End. Beides ist möglich.
Es braucht einen kurzen Moment der Orientierung – wo ist man hier hineingeraten? Das Bühnenspektakel entfaltet sich unvermittelt rasant: Die Familie ist in heller Aufregung, da ein gewisser Tartuffe sich im Hause einquartiert und dem Hausherren Orgon vollkommen den Kopf verdreht hat. Orgon ist dem Frömmigkeit heuchelnden Mann, der sich in Wirklichkeit wie ein Flegel benimmt und manipuliert wo er kann, völlig erlegen. Blind vor Bewunderung ist Orgon bereit, ihm alles zu geben: Haus und Hof und sogar seine Tochter zur Ehefrau. Die Familienmitglieder inklusive der Zofe Dorine haben die Betrügerei längst enttarnt und wollen das Schlimmste verhindern – die Hochzeit der Tochter Mariane mit dem bigotten Lüstling Tartuffe, der im knöchellangen Mantel wie im Büßergewand daherkommt.
Regisseur Maik Priebe hat das 1664 uraufgeführte Stück als barocke Komödie inszeniert. Gesprochen wird in Versen, die reduzierte Reimform gibt dem Stück das Tempo vor und lässt Raum für kühne Wahrheiten, verpackt in feine Ironie. Vor allem optisch ist die Inszenierung ein Schmaus, Susanne Maier-Staufen hat ein bewegtes Gemälde geschaffen: Ein prächtiger, goldener Kettenvorhang, durch den die Protagonisten auf die Bühne rauschen und wieder hinunter, ist die einzige Requisite, die Schauspieler selbst sind das Bühnenbild. Üppig gehüllt in Spitze und Tüll, versehen mit Schleifen und Glitzer, Borten und Rüschen, die Gesichter puppenhaft weiß geschminkt, auf dem Kopf eine wallende Korkenzieherlockenpracht, geben sie sich ganz dem lustvollen Spiel hin, hemmungslos überdreht, exaltiert, laut, zuweilen wirken sie wie unkontrolliert losgelassene Aufziehpuppen. Die flapsige Dorine erinnert mit ihrem auftoupierten Vogelnest auf dem Kopf an die Modedesignerin Vivienne Westwood in ihren besten Zeiten.
Wie in jeder guten Komödie muss es einen Höhepunkt geben, der zugleich Wendepunkt ist, so auch hier – Tartuffes wahres Treiben fliegt in der zweiten Hälfte des Stückes auf. Für diese großartige Szene kommt ein schwarzer Tisch auf die Bühne. Orgons Gattin will ihrem Ehemann, dem verblendeten Patriarchen, vor Augen führen, dass Tartuffe nicht mal davor zurückschreckt, sie selbst zu befingern. Orgon muss sich unter dem Tisch verstecken, um Zeuge der Verführung zu werden. Seine Frau räkelt sich, ins Mieder geschnürt, oben drauf. Tartuffe, ganz Wolf im Schafspelz, lässt rasch das Büßergewand fallen und umgarnt die Gattin. Es folgt ein wildes Gerangel und Gegrapsche auf und unter dem Tisch und um den Tisch herum, während Tartuffe der Gattin versichert, er wisse, wie man die Gebote des Himmels umgeht. „Wer im Geheimen sündigt, sündigt nicht.“ Da darf sogar das Schamhaar-Toupet aus dem Mieder des Alten wuchern.
Endlich erkennt Orgon, welch teuflisches Spiel Tartuffe mit ihm getrieben hat. Man darf nicht alles glauben, was man sieht, lautet seine selbtkritische Einsicht. Oder, um nochmal einen letzten Blick auf das Bühnenbild zu werfen: es ist nicht alles Gold, was glänzt. Tartuffe wird vom Kommissar abgeführt, der Spuk hat ein Ende, alles ist nochmal gut gegangen. Und im wirklichen Leben? Wie hält es ein jeder mit der Heuchelei, dem Schein und dem wahren Sein? Steckt nicht ein wenig Tartuffe in uns allen?