Was bleibt von einem Leben? Bei den allermeisten wird das wohl die Erinnerung sein, wenn sie nicht ein Kunstwerk geschaffen oder eine Familie gegründet haben - die als mehr oder weniger stumme Zeuginnen und Zeugen die Erinnerungen ergänzen oder auch mal korrigieren können. Und so sind es die Erinnerungen, die den Herrn Karl - aller Geschwätzigkeit und Schönfärberei zum Trotz - als das erscheinen lassen, was er ist: ein Mitläufer und Egoist.
„Es geht nicht um das Böse schlechthin, sondern um Menschen, die sich ünber andere stellen“, sagt der Puppenspieler und Theatermacher Nikolaus Habjan, der in Gauting mit seiner Interpretation des „Herrn Karl“ gastierte, jener Geschichte, mit der Helmut Qualtinger im Jahr 1961 den österreichischen Mythos des „ersten Opfers des nationalsozialistischen Deutschland“ ad absurdum führte. Habjan teilt, in der Inszenierung von Simon Meusburger, die Figur des Herrn Karl auf drei Figuren auf: einen schmierig-devoten Oberkellner, einen dem Alkohol stark zusprechenden cholerischen Gast und eine heruntergekommene, manisch-depressive Bardame. Diese drei werden von Klappmaulpuppen dargestellt, Habjan selber spielt - neben allen drei Puppen - in persona einen Aushilfskellner, der zum Zeugen der Selbstdemontage der drei anderen wird, allesamt Zeitzeugen und Mitläufer der Zeitenwechsel zwischen den 1920er Jahren und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Szenerie ist ein Caféhaus, in dem die Zeit stehengeblieben scheint. Davon erzählt auch das immer wieder neu aufgezogene alte Grammophon, auf dem die bekannten Wiener Walzer zur leiernden Begleitmusik des ewig Gestrigen werden. Und während die drei Alten ungefragt und ohne ein Schuldbewusstsein für die Schamlosigkeit und auch Gnadenlosigkeit des Offenbarten, ihre Lebenslügen offenbaren, kann sich der junge Aushilfskellner dem nur erwehren, indem er sie immer wieder an Metzgerhaken hängt, was die anderen mit viel Würgegeräuschen kommentieren - aber dennoch ertragen müssen. Eine kleine, aber wirkungsvolle Rache des Nachgeborenen.
Nikolaus Habjan unterliegt zu keinem Zeitpunkt der Gefahr, das Original von Qualtinger und Merz zu imitieren oder diesem mit allzu großer Ehrfurcht zu begegnen. Vielmehr klopft er die Geschichte des Opportunisten auf seinen allgemeinen Gehalt ab und lässt zwischen Grammophon, Caféhaustisch und Bar jene Allgemeinplätze sich entfalten, die zu jeder Zeit den Nährboden bereiten für Despotismus und Tyrannei. Das macht den „Herrn Karl“ so brandaktuell: in einer Gegenwart, in der Begriffe wie „Remigration“ salonfähig werden und öffentlich darüber nachgedacht wird, wer zur Gesellschaft gehören und für diese einen Wert haben soll und wer nicht, gilt es genau hinzuhören, wie weit sich das Gedankengut eines Herrn Karl schon oder immer noch breitgemacht hat. Allerdings - diese Bemerkung sei der Rezensentin erlaubt - ist das mit dem Genau-Hinhören im Fall des Habjan-Gastspiels für Menschen, die nördlich des Mains aufgewachsen sind, nicht so ganz einfach. So manches geht in diesem Fall an Wienerisch Hingeraunztem verloren. Aber das Gautinger Publikum schien doch überwiegend mit dem Idiom vertraut. Ein nachdenklich stimmender, durch seine Vielgestaltigkeit beeindruckender Theaterabend.