„Wozu das ganze Theater?“ fragt Kulturjournalistin Sabine Zaplin in ihrer Gesprächsreihe „Tee bei Sabine“ den Schauspieler und Regisseur Alexander Netschajew. Der „Gautinger Nachbar aus Tutzing“ war zuletzt mit seiner gelobten Inszenierung des „Faust“ als Gast im Gautinger bosco. Politisch Furore machte der frühere Intendant des Stadttheaters in Landsberg am Lech, als er im Spielplan der einstigen „Stadt der Jugend“ die verdrängte NS-Vergangenheit thematisierte.
„Aufgewachsen an der S 6 in Tutzing“, geboren in West-Berlin: Erste schauspielerische Erfahrung sammelte Alexander Netschajew in München, wirft Moderatorin Sabine Zaplin den Blick zurück. Mit Kultur- und Musikmanagement setzt der Schauspieler noch eins drauf: Alexander Netschajew leitet Münchens „kleinstes Opernhaus“ in der nahen Pasinger Fabrik, wird schließlich Intendant des Landestheaters Landsberg am Lech und im Altmark-Theater Stendal in Sachsen-Anhalt.
Die Gautinger Theatergänger*innen kennen den „Fast-Würmtaler“ von seinen Theater-Produktionen “Antigone“ und „Faust“ im bosco – und als wunderbaren Moderator der örtlichen Fest-Veranstaltung „25 Jahre Theaterforum.“ Denn Alexander Netschajew, Enkel eines Schauspielers mütterlicherseits, betrat schon vor einem Viertel Jahrhundert die Gautinger Bühne – damals noch im bescheidenen „TheaterSpielRaum“ von Hans-Georg Krause im Keller der Paul-Hey-Mittelschule.
„Ich glaube an Lust betontes, packendes Theater, das leicht ist, aber auch Fragen stellt“ zitiert Sabine Zaplin den früheren Intendanten des Stendaler Theaters – aber: „Wozu das ganze Theater – es kostet doch nur Geld?“, stellt die Moderatorin die Gretchenfrage, wie so manche/r Kommunalpolitker*in.
„Der Mensch ist dort, wo er spielt“ antwortet Netschajew mit einem Zitat von Friedrich Schiller. Denn durch den Zauber des Augenblicks im Theater, werde der Mensch kurzzeitig in den Bann einer anderen Welt gezogen. Dafür müsse ein „gutes“ Stück aber auch Fragen stellen ohne zu belehren – „und die Zuschauer berühren.“
„Aber Sie als Intendant erreichen doch eh nur die, die ohnehin kommen?“, spielt die Kulturjournalistin die advocata diaboli. Theater sei letztlich „ein Proberaum der Demokratie“, kontert Netschajew. Die Leute kämen „eben nur dann wieder, wenn wir gut performen,.“
„Warum dann so viel Geld?“ bohrt Sabine Zaplin weiter. „Für ein funktionierendes Gemeinwesen muss das sein“, so der Theater-Regisseur. Fußballstadien oder Brückenbau wie die im Moseltal für eine halbe Milliarde Euro würden ja auch subventioniert – „obwohl da nicht jede/r drüberfährt“. Der Mensch lebe schließlich „nicht vom Brot allein“, sondern vom „Miteinander.“ Kulturstätten als Ort der Begegnung seien da einfach „wichtig.“ Schließlich besuche das Publikum nach der Aufführung auch Restaurants am Ort.
Nach der „tollen, lehrreichen“ Zeit an Münchens „kleinstem Opernhaus“ in Pasing, habe er beim Sprung nach Landsberg Lech erlebt, was Theater als freies Medium gesellschaftlich auslöst, so Alexander Netschajew weiter. Doch mit seinem ersten Spielplan an diesem historischen „Bürgertheater“ zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht und seiner Hauptproduktion „Die Flucht“, die auch im Gautinger bosco zu sehen war, sei die von der Kultur „seltsam entfernte Stadtführung“ einfach nicht klar gekommen, erinnerte der kurzzeitige Intendant an die NS-Vergangenheit der ehemaligen „Stadt der Jugend.“ Hintergrund: In Landsberg, wo Adolf Hitler nach seinem Münchner Putschversuch vom 9. November 1923 bekanntlich wegen Hochverrats inhaftiert war, mussten jüdische KZ-Häftlinge noch im letzten Kriegsjahr in Großbunkern Jagdflugzeuge produzieren. Mehrere KZ-Friedhöfe und Gedenkstätten in Landsberg und dem benachbarten Kaufering zeugen vom damaligen Massensterben.
Viele im Stadtrat waren aber mit ihrer Familiengeschichte „noch 70 Jahre danach“ mit den NS-Tätern verwoben, erzählt Netschajew. Denn die KZ-Außenlager waren auch ein „Wirtschaftsfaktor.“
Im Gegensatz zu Landsberg Lech, wo`s „noch nicht einmal einen Schaukasten am Theater gab“, hing vor dem Rathaus in Stendal in Sachsen-Anhalt sogar ein Theatervereins-Banner, wirft der Intendant den Blick zurück. Doch auch dort, in der Hansestadt, gab`s 2011/12 „große Diskussionen“: Wieviel Kultur können wir uns noch leisten? Aus drei Sparten Sänger, Tänzer, Chor wurde eine. 300 bezahlte Theater- Mitarbeiter*innen in Stendal schrumpften auf 70: „Ich hatte ein verschrecktes Ensemble“ – nach dem Motto: „Ich mache alles.“ Der Oberbürgermeister hatte Erbarmen, machte mehr Geld locker – die Geburtsstunde einer „Bürgerbühne“, sagt der Ex-Intendant von Stendal.
Etwas Ähnliches mache Choreographin Bettina Fritsche mit ihrem Tanztheater-Projekt in Gauting. Weitere Beispiele für „Bürgerbühnen“ seien die „Literarischen Hausbesetzungen“ und der Jugend-Theaterclub „Spiellust“ des Gautinger Schauspielers Sebastian Hofmüller. Oder die Workshops „Carmina Burana- Du singst!“ im bosco, sowie das Projekt „Spielclub inklusiv“, erläutert Alexander Netschajew dem Publikum.
„Sei frech und wild und wunderbar!“: Ein Zitat von Astrid Lindgren prangt auf dem Titel seiens ersten Buches. Im bosco las der Autor und Schauspieler aus einer früher in einer Stendaler Tageszeitung erschienenen politischen Kolumne: Netschajew spannt dabei einen Bogen von der Flucht von DDR-Bürgern vor dem Fall der Mauer nach Prag – zu den heutigen Flüchtlingen vor der EU-Außengrenze mit Toten im Mittelmeer.
Aber in Stendal dominiere doch die „rechte Ecke“, zieht Hans-Georg Krause, der Gründer des Gautinger Theaterforums, in der Debatte einen kritischen Vergleich zum demokratischen „Luxus“ hier in Bayern.
„Ich habe mich dort nicht einschüchtern lassen“, betont Alexander Netschajew. Die AfD habe in Stendal zwar bei der Stadtratswahl heuer zugelegt, aber der CDU-Oberbürgermeister hielt stets seine „schützende Hand“ übers Theater. .
Und wie geht`s weiter? Nach den Jahren als Intendant lege er jetzt erst einmal ein Sabbat-Jahr ein, verrät der Autor aus Tutzing.