Auch soziales Leben am Ort schafft Kultur: Etwa 40 ZuhörerInnen strömten zum Teegespräch „Gautinger Mädchenheim“ mit Sabine Zaplin ins bosco. Fürs Leben hinter den Mauern der Jugendhilfe-Einrichtung an der Starnberger Straße interessieren sich die Bürger offenbar brennend. 57 Schülerinnen aus „schwierigsten Familienverhältnissen“ werden in den anfangs geschlossenen Wohngruppen „intensivtherapeutisch“ betreut. In der „spießigen“ Atmosphäre der Jugendhilfe-Einrichtung bekommen auch Schulschwänzerinnen, die auf der Straße „überlebten“ wieder eine Chance, betont Psychologe und Heimleiter Frank Woltmann. Denn Rektorin Gerit Timmerkamp, Sonderpädagogin und Psychologin, fördert die Kinder gezielt in der Agnes-Neuhaus-Schule.
„Es interessiert sich jemand für Euch“: Diese Botschaft vermittelt die Gautingerin Ruth Krafft den jungen Heimbewohnerinnen aus dem gesamten Bundesgebiet. Denn die Vorsitzende des Fördervereins ist auch das Bindeglied zu den Bürgern am Ort. „Seit 2004“ unterstütze der einst von Apothekerin Katja Lahm gegründete Förderverein die Mädchen. Zum Beispiel das therapeutische Reiten, den Musik-, Sportunterricht, die Kunsttherapie – oder die Schülerfirmen.
„Meine Vorgängerin war die heutige Bürgermeisterin“, verweist Ruth Krafft auf die anwesende Rathauschefin Dr. Brigitte Kössinger. Dem Förderverein mit aktuell 53 Mitgliedern, liege die Verbindung der Gautinger zu den Jugendlichen, die aus „sehr schwierigen Familienverhältnissen“ kommen, nämlich am Herzen.
Einblicke in den Alltag hinter geschlossenen Mauern gaben Gerit Timmerkamp, die Rektorin der angegliederten Agnes-Neuhaus-Schule und Heimleiter Frank Woltmann.
Es sei „ein Segen“, dass der „Sozialdienst Katholischer Frauen“ das großzügige Gautinger Gelände zwischen Starnberger Straße und Hangkante einst „übergeben“ habe: Zum symbolischen Kaufpreis von „einer Mark“ ging das Areal vor 33 Jahren an den Caritasverband, erinnert Woltmann. Deshalb liege die Gautinger Jugendhilfe-Einrichtung heute auf einem grün eingewachsenen Grundstück – „mit viel Platz“ für Freizeit und Sport.
Vor drei Jahrzehnten wurden hier vor allem „Punks“ von der Straße in geschlossenen Wohngruppen intensiv betreut, wirft der Heimleiter und Psychologe den Blick zurück. Heute kämen die Mädchen aus fast allen gesellschaftlichen Schichten: Es gebe psychisch kranke Jugendliche aus „schwierigsten, prekärsten Verhältnissen.“ Aber auch die Tochter aus der Lehrer-, Sozialpädagogen-, Psychologen- oder Polizistenfamilie.
„Wir leisten da ein Stück Nacherziehung“, erklärt Psychologe Frank Woltmann. Der Gautinger Heimleiter weiß, wovon er spricht: Zu Hause habe er selbst Kinder im Pubertätsalter, betont der 52Jährige.
„Schlimmste Lebensverhältnisse“ mit Gewalt. Missbrauch, hätten die betreuten Mädchen „schon hinter sich“, sagt Rektorin Gerit Timmerkamp. Die 13- bis 17-Jährigen überlebten auf der Straße – und entzögen sich pädagogischen Maßnahmen durch Weglaufen. Doch bevor die Mädchen durch richterlichen Beschluss in die geschlossene Jugendhilfe-Einrichtung kommen, „wird alles probiert.“
In Gauting lernten die Jugendlichen erst einmal wieder „Erwachsenen zu vertrauen.“ Aber auch „sich selber.“
Weil die Agnes-Neuhaus-Schule direkt auf dem Gelände liegt, sei die Chance gering, dass die Mädchen auf dem kurzen Weg verloren gehen, ergänzt Heimleiter Frank Woltmann. In den Wohngruppen übernachte eine pädagogische Fachkraft, welche die Mädchen morgens zur Schule begleitet – und der Sonderpädagogin gleich mitteilt, ob`s einen Konflikt oder eine Selbstverletzung gab.
„Stress“ gebe es eigentlich erst ab der neuen Klasse, wenn sich die Schülerinnen auf den „Quali“ (qualifizierenden Hauptschul-Abschluss) vorbereiten müssen, sagt Rektorin Timmerkamp. Davor arbeiteten die Mädchen auch in den „Schülerfirmen“ wie etwa der Kunst AG. „Das müssen sie ein halbes Jahr durchhalten“: Wenn sie da „rausfliegen“, erklärt die Sonderpädagogin das Konzept, landeten sie mit Hartz IV in der „Arbeitsagentur“ – und müssten Ein-Euro-Jobs erledigen. Diese Maßnahme sei sehr effektiv: Mädchen, die den Schulhof kehren mussten, kehrten nämlich gern wieder zurück in ihre „Werkgruppe.“
Sobald ihre Schützlinge rausdürfen, haben sie auch die Chance für Praktika in Gauting, sagt Gerit Timmerkamp. Da die Mädchen „mit Misserfolgen zu uns kommen“ sei „Beziehungsarbeit“ das oberste Gebot. Denn cognitiv seien ihre Schülerinnen, darunter je „zehn bis 20 Prozent“ Gymnasiastinnen und Realschülerinnen „fit.“
„Unsere spießige Struktur“ mit Tagesplanung in Gruppen, Feedback der Pädagogin und Therapieangebot, erlebten die Jugendlichen als „hilfreich“, betont Heimleiter Frank Woltmann. Allerdings erst nach Anlaufschwierigkeiten.
Denn zunächst schrien die jungen Ausreißerinnen „Gezeter und Mordio.“ Aber wenn die Mädchen Gauting nach 15 Monaten wieder verlassen müssen, „gibt`s Tränen“, erzählt Heimleiter Woltmann.
„Ich bin fasziniert, wie Ihr pädagogisches Konzept funktioniert“, lobt Gudrun Lincke. Die Gautingerin arbeitete nämlich 1971 selbst im Mädchenheim – damals unterm strengen Regiment der katholischen Schwestern: „Mit fliegenden langen Röcken rannten die den geflüchteten Heimbewohnerinnen Richtung Bahnhof nach – und holten sie zurück“, erzählt Gudrun Lincke.
Das machten sie heute aber auch – bevor die Mädchen wieder im „Rotlichtviertel von St. Georg Hamburg“ landeten, betont Schulleiterin Gerit Timmerkamp.
„Die Mädchen sind da – und gehören dazu“, warb Fördervereinsvorsitzende Ruth Krafft schließlich für „ein Lächeln“ – wenn Gautinger den Mädchen „von der Schattenseite des Lebens“ begegnen. Zum Beispiel am Mädchenheim-Stand beim Gautinger Weihnachtsmarkt. Oder eben im benachbarten Lidl-Markt.