Der Pool unserer Erinnerungen ist allgegenwärtig: Manchmal stecken wir nur die Zehenspitzen hinein, dann wieder drohen wir darin zu ersaufen. Wir wollen uns nicht immer nass machen, aber er durchtränkt uns doch. Oder ist es gar ein Gen-Pool, eine Ursuppe, aus der wir heraus gekrochen sind und in die wir irgendwann wieder eintauchen werden? Das „Theater a.d. Ruhr“ hatte mit dem Doppel-Pool ein spektakuläres Bühnenbild mit nach Gauting gebracht: Für Robert Ciullis Inszenierung von „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ nach Eugene O´Neill waren erst mal fünf Stunden Aufbau und zwei Lkw-Ladungen erforderlich, ehe die Akteure (unter Aufsicht zweier Feuerwehrler) loslegen konnten. Und es sollte sich lohnen – nicht nur das Bühnenbild schöpfte die gesamte Tiefe des Bosco-Gebäudes aus, auch die inszenatorische Umsetzung: „Die schuldlose Schuld des Menschen ist O'Neills Kernthema“, so Dramaturg Helmut Schäfer bei der Einführung zum Stück. Dass das Schicksal aus der Familie entspringt, war eine Erkenntnis, die der amerikanische Autor und „Erfinder des modernen Theaters“ (Tennessee Williams über O´Neill) am eigenen Leibe erfahren hatte: Der Vater ein Schauspieler und tyrannischer Geizkragen, der sein Geld hauptsächlich mit Grundstücksgeschäften gemacht hatte; der Sohn, hiervon angewidert, entfernte sich, fuhr zur See und fand seinen Weg zum Schreiben erst später, nach einer Tuberkulose-Erkrankung. O'Neill (1888 – 1953) schrieb mit „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ (1942 fertig geworden) „sein wohl autobiografischstes Stück“, so Schäfer, eine Art Familienaufstellung mit drei Alkoholikern (Vater und zwei Söhne) und der Mutter als Morphinistin – ein direkter Spiegel sei es jedoch nicht, fügte Schäfer hinzu. Diese im Grunde restlos zerrüttete, emotional nahezu tote Familie wird bei O'Neill nur durch die gemeinsam verdrängten Erinnerungen zusammengehalten: Vater James Tyrone (Klaus Herzog) hatte bei der Geburt des Sohnes Edmund (Marco Leibnitz) in einem schäbigen Hotelzimmer offenbar derart gegeizt, dass ein Kurpfuscher und kein Arzt ans Kindbett geholt wurde – dadurch wurde James' Frau Mary (Simone Thoma) zur Morphiumabhängigen; die heranwachsenden Söhne wiederum entwickelten sich nach dem Vorbild des trunksüchtigen Vaters: Der ältere Jamie Tyrone Junior (Fabio Menéndez) ein Versager, der jüngere Edmund ein an Schwindsucht leidender Schwächling. Der beschreibt diesen Wahnsinn besonders treffend: „Wir sind alle verrückt, was sollen wir denn mit der Vernunft?“ In dieser düster umwölkten Konstellation verharren alle Vier, nur hin und wieder spritzt es im Pool, wenn die Vergangenheit aufgewühlt wird oder Mary in einem längst vergessenen Koffer einen durchfeuchteten Strampelanzug findet und auswringt: Dann wird das Tropfgeräusch dumpf verrinnender Zeit übertönt von Wutausbrüchen und gegenseitigen Vorwürfen. Rudimente von Zärtlichkeit zwischen Mary, ihren Söhnen und sogar ihrem unbeirrbaren Granitblock von Mann werden kurz sichtbar, ehe sie doch wieder verpuffen. Als Abgesang an jegliche Hoffnung werden dazu die „Doors“ eingespielt: „This is the end...“ Später faucht auch noch Janis Joplins Stimme vom Band, stellvertretend für den Schmerz und vielleicht ein letztes Aufbäumen von Lebendigkeit. Und in ständiger Reichweite: die Whisky-Flasche. O'Neill wie auch die Inszenierung Ciulli/Schäfer schöpfen den (Hohl-)Raum dieses Vier-Personen-Dramas in Strindberg'schen Ausmaßen weidlich aus: „Drogistin“ Mary geistert in goldenen Schuhen überall umher, hat lichte und umnachtete Momente (Simone Thoma zieht von ätherisch bis schrullig alle Register), sie steht im Zentrum all dieser schicksalhaften, ja im Wortsinne „schicksalsschwangeren“ Verstrickungen und spricht ständig von dem, „was uns das Leben angetan hat und wofür es keine Erklärungen und Entschuldigungen gibt“. James, Marys Holzklotzehemann (Klaus Herzog mit roten Clownslippen), gelingt der Part des mitleidlosen Unsympathen dafür fast durchgängig: „Mary?“ - „Ja, Liebling, was denn?“ - „Nichts!“ Währenddessen ringt der von Anfällen gebeutelte Jamie (Fabio Menéndez) mit der Hassliebe zur Mutter und zum noch krankeren kleinen Bruder: „Wir waren so dämlich, uns Hoffnungen zu machen!“ In der Figur des schwindsüchtigen Edmund aber bündelt sich die ganze Resignation dieser Familie: Marco Leibnitz spielt ihn mit zumeist leiser, tragischer Intensität, als Todgeweihten mit zarter Seele – er wird am Ende das meiste Wasser abbekommen haben und mitten drin liegen in der Ursuppe: Eines langen Tages Reise in die Nacht ging für ihn zu Ende.