Vier Menschen sitzen auf einem sehr großen, sehr roten Sofa, dem Publikum direkt gegenüber. Vier weiße Menschen: zwei Herren, zwei Damen, mal in Weiß, mal in Schwarz gekleidet, alle tragen Sonnenbrillen und sehen gelangweilt ins Nichts. Es beginnt ein ebenso gelangweiltes Gespräch, mehr ein Small Talk, in dem es um Gunst und Missgunst geht, um die Frage, wer dazu gehört und bei wem man sich wundert über die Zugehörigkeit. „Der Schwarze“, erfährt man, will dazugehören. Was maßt er sich an?
Im Hintergrund hängt ein Boxsack, von oben beleuchtet von einem Rechteck aus Scheinwerfern, ein Boxring aus Licht. Ein Refugium jenseits des Lounge-Lebens der etablierten Gesellschaft, ein Ort des Kampfes und der Brutalität, aber auch ein Ort der fairen Regeln. Hier wird Othello - den niemand aus der Sofa-Society bei seinem Namen nennt, sie sprechen immer nur von „dem Schwarzen“ - später versuchen, seiner Gefühle wieder Herr zu werden, das in ihm wachsende Geschwür der Eifersucht wegzuboxen. Eine Eifersucht, die aus den Zweifeln entstanden ist, seinen eigenen und denen der Gesellschaft um ihn her: kann er, der Schwarze, dazugehören? Darf er Desdemona, Tochter aus bestem Hause, haben? Steht sie ihm zu? Oder provoziert er mit seinem Anderssein nicht sogar selber mögliche Nebenbuhler, die sich einfach zurückholen, was ihnen vermeintlich eher zusteht?
„Othello“ in der Inszenierung von Roberto Ciulli und seinem Theater an der Ruhr destilliert Shakespeares Drama auf zwei ganz große, ganz gegenwärtige Fragen: was bedeutet Herkunft und wie geschieht Manipulation? Othello, den der nigerianische Schauspieler Jubril Sulaimon spielt, kommt nach langer Reise in die Stadt am Mittelmeer, früher mal war er Profi-Boxer. Er gewinnt hier das Herz von Desdemona (Dagmar Geppert), die sich geliebt glaubt im Gegensatz zu bisherigen Erfahrungen. Ihr Vater (Klaus Herzog) steht für die Generation der offen ihre Vorurteile Benennenden: er nennt rassistische Gründe als Einwände gegen den unerwünschten Schwiegersohn. Desdemonas Freundin Emilia (Dagmar Geppert) steht für das, was aus Desdemona hätte werden können, wäre sie mit einem vom Vater ausgewählten Mann verheiratet: eine frustrierte, ihrer Gefühle längst beraubte Society-Lady. Denn Emilias Mann, Jago (Steffen Reuber), tut genau das, was er in diesem Umfeld gelernt hat: Schwächen diagnostizieren, Fallen stellen, Fäden ziehen. Im konkreten Fall bringt er Cassio (Fabio Menéndez) ins Spiel, einst Othellos Freund, den Jago nun zum vermeintlichen Nebenbuhler aufbaut. Dazu genügt ihm ein kleines Requisit: ein Stofftaschentuch. Dieses blütenweiße Rechteck wird zur Projektionsfläche für alle in den Köpfen der Beteiligten vorherrschenden Phantasien: als (Beinahe-)Wäschestück nah am Körper getragen, beweist es größtmögliche Intimitäten; als Geschenk der fernen Mutter, mit einem Zauber versehen, wird es zum Beweis für archaisches Verhalten wie Erfüllung der Prophezeiung gleichermaßen; und als einfach zu platzierender Gegenstand dient es als Spur für betrügerisches Benehmen.
Roberto Ciulli und seine sechs hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspieler setzen auf das Sichtbarmachen dieser inneren Bilder. Die Situation auf dem Sofa erzählt von einer erstarrten Gesellschaft, in der alle, die dazugehören, ihre Plätze einnehmen und sich dann nicht mehr weiter bewegen. Der Boxsack wird zum Schauplatz jener Gefühle, die zuvor bewusst durch Manipulation wachgerufen wurden. Ein von der Seite hereinwehendes Tuch - groß wie ein zum Gespenst herangewachsenes Taschentuch - erzählt von der Machtintrige, die zum Totentuch werden muss. Der von Gralf Edzard Habben gestaltete minimalistische Raum lässt all diese in den Köpfen herrschenden Bilder sichtbar werden, dient als „Screen“ des Social-Media-Bosses Jago, der seinerseits nur erfüllt, was alle wollen: dazugehören, zu einer Gesellschaft, deren Grenzen nur scheinbar offen sind, die in ihren Konventionen gefangen ist und schon an einem kleine Stück Stoff scheitert. AmEnde sind die Frauen, die wenigstens einen Grenzübertritt versucht haben, tot. Die Männer machen einfach weiter. „Und wo soll der Schwarze hin?“ fragt Othello. Eine Antwort gibt es nicht.