Kann man ein Mensch unter Unmenschen sein? Kann man als einzelner Widerstand leisten in einem System der Unterdrückung? Man kann, man muss es nur mit dem Leben bezahlen. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck von zwölf Jahren NS-Diktatur schrieb Hans Fallada 1946 seine Parabel vom anständigen Menschen. 850 fiebrig in nicht einmal vier Wochen hingeworfene Manuskriptseiten überreichte er seinem Verleger, kurz darauf starb er, morphiumsüchtig und alkoholkrank, psychisch und physisch am Ende. Es ist, als ob er gegen sich selbst angeschrieben hätte, den nicht emigirierten und angepassten Schriftsteller.
„Jeder stirbt für sich allein“ hat auch siebzig Jahre nach Kriegsende nichts von seiner Kraft verloren. Der Roman erschien 1947 im Aufbau-Verlag, stark gekürzt und kulturpolitisch zurechtgebogen. Erst im neuen Jahrtausend wurde die ungekürzte Originalfassung international zum Bestseller, 2011 erschien sie auch auf Deutsch. Jens Groß, Gautinger und derzeit Chefdramaturg am Schauspiel Köln, hat „Jeder stirbt für sich allein“ für die Bühne bearbeitet, seit 2014 spielt das Theater Erlangen das Stück, am Dienstagabend auch für das Gautinger Publikum.
Du kannst doch nicht weiterleben wie bisher, jetzt wo sie Dir Deinen Otto totgeschossen haben. Als sie die Nachricht vom Tod des einzigen Sohns an der Front erhalten haben, beschließen die Eheleute Otto und Anna Quangel, dass sie etwas tun müssen. Der Roman basiert auf den Prozessakten des Arbeiterehepaars Otto und Elise Hampel, das in den Jahren 1940 bis 1942 in Berlin Postkarten-Flugblätter gegen Hitler ausgelegt hatte und denunziert worden war. Das Stück beginnt mit dem Auftritt der Briefträgerin Eva Kluge, in der Hand der Feldpostbrief mit der Todesnachricht. Es endet damit, dass ausgerechnet der Gestapo-Kommissar, der den Kartenschreiber verfolgt, feststellt: „Ich bin der einzige Mensch, den Otto Quangel mit seinen Karten bekehrt hat.“
Aber da ist es schon zu spät. „Mutter! Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet“, hat Otto Quangel auf die erste Karte geschrieben – und damit das Unausprechliche zu Papier gebracht. „Wir werden den Krieg beenden“, so hofft er. Unendlich langsam entwickelt sich die große Katastrophe auf der Bühne, quälende drei Stunden lang dauert es, bis Otto Quangel zum Schafott schreitet und seine Frau bei einem Bombenangriff in der Gefängniszelle ums Leben kommt. Jeder stirbt für sich allein. Aber die Quangels sterben in der Überzeugung, dass sie das Richtige getan haben: „Hauptsache, wir sind nicht so wie alle anderen.“ Sie haben nichts ausgerichtet mit ihren 276 Postkarten und 9 Briefen, die sie in Treppenhäusern vor Arztpraxen und Anwaltskanzleien überall in Berlin ausgelegt haben: Fast alle sind von verängstigten Menschen der Gestapo übergeben worden, die Finder mussten ebenso wie die Kartenleger fürchten, entdeckt zu werden. Die Quangels haben sie mehr in Bedrängnis gebracht, als dass sie ihnen Mut zum Aufstand gemacht hätten. Doch darum geht es nicht: Es geht um „unpolitische“ Mitläufer und den Rückzug ins Private, um die Frage, ob der Einzelne sich querstellen kann in einem System, in dem man von oben getreten wird und nach unten treten muss, um nicht unterzugehen. Man kann. Man hätte können.
Die Akteure kommentieren immer wieder selbst am Bühnenrand ihr eigenes Tun, sie sind Täter, Opfer, Richter. Größtmögliche Verfremdung, die jedoch auch größtmögliche Eindringlichkeit erzielt. Aufwühlend, tief, tief unter die Haut gehend ist diese Inszenierung des Theaters Erlangen unter der Regie von Katja Ott. Die Bühne ist so karg, als wäre man schon zu Beginn im Hinrichtungsraum. 13 Schauspieler agieren gleichsam schutzlos, ohne Rückzugsmöglichkeit, immer den Augen der Häscher, der Beobachter, der Eindringlinge ausgesetzt, mit viel zu wenig ausgestattet, um sich hinter irgendetwas verstecken zu können. Großartig in dieser Unerbittlichkeit jeder einzelne von ihnen.