Als Gotthold Ephraim Lessing in Folge des Streits um die „Fragmente eines Unbekannten“ (1777/78) begann, für einen aufgeklärten Glauben und gegen die verbreitete Wundergläubigkeit öffentlich Stellung zu beziehen, konnte er natürlich nicht ahnen, dass die von ihm angestoßene Grundsatzdiskussion um weltanschauliche Toleranz und eine Koexistenz der Religionen fast 240 Jahre später immer noch bzw. wieder ein großes Thema ist. Im deutschsprachigen Theater-Raum ist sein „Nathan der Weise“ also wieder schwer in Mode, und so suchte sich auch das Theater Erlangen mit seiner Regie führenden Intendantin Katja Ott eine eigene Akzentuierung dieses Klassikers. Nichts Historisierendes und keinerlei „Kostüm“ soll ablenken, man spielt quasi in Business-Anzug (Saladin) oder Outdoor-Montur (Tempelherr) oder im „türkischen“ Hausfrauenfummel (des Sultans Schwester) - das Wort allein soll ja zu seinem Recht kommen - in Otts eigenen Worten: „Wir wollen zum Denken einladen!“ Gut, wir runzeln nachdenklich die Stirn...
Für die in Gauting an zwei Abenden gezeigte Inszenierung bedeutete diese Art der Reduktion aufs Wesentliche zunächst ein Bühnenbild (Bernhard Siegl), das ebenso an die dicht stehenden Mauern des mittelalterlichen Jerusalems denken ließ wie an das Halbrund eines Audimax. In dessen funktionale vier Ebenen stellt Ott nun ihr Sprechtheater hinein, zumeist dialogisch, immer aber mit den gerade nicht sprechenden Lessing-Figuren als Zuhörer: Der Zuschauer im Saal erlebt so knapp drei Stunden lang ein Verhandeln des reines Wortes, fast ohne schauspielerisches Agieren, und wenn, dann auf unterstützende Mimik begrenzt. Dies verlangt dem Publikum in der Tat jene Konzentration ab, die von der Regie eingefordert wird – und den Akteuren trotz leichter Kürzungen einen präzisen Umgang mit Lessings Worten. Dieser hatte in seinen Aphorismen formuliert: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, um hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen.“ Lessing hat in der Figur des "Nathan" alles vereint: den Zweifel, das Hoffen, den Irrtum, die Wahrheitssuche. Einen Menschen eben. Zwar hat dieses redliche Bemühen gerade im lärmigen Diskurs der Moderne seine Berechtigung, doch sei auch die Frage erlaubt, ob der zeitlos gültige „Lessing“ mit seiner über 200 Jahre alten, leicht manierierten Gelehrten-Sprache allein noch jene erreicht, die eben (Herzens-)Bildung dringend nötig hätten?
Das Theater Erlangen hätte ja, wie im bosco erkennbar wurde, in seinem Ensemble durchaus „Typen“ zu bieten, die über das hehre Wort hinaus ein wenig „Butter bei die Fische“ zusteuern könnten: Ralph Jung ist endlich mal kein Methusalem-alter „Nathan“, sondern ein erfrischend offenherziger Weiser, hart an der Grenze zum Naiven; Hermann Große-Burg gibt dazu einen stattlichen „Sultan Saladin“, der im grünen Anzug allerdings eher an einen pragmatischen OPEC-Minister gemahnt: „Ich bin auf Geld gefasst, und er will Wahrheit!“, seufzt Nathan einmal über so viel Geradlinigkeit. Der „junge Tempelherr“ wiederum (Benjamin Schroeder) ist in seiner angedeuteten Ritterrüstung als Christ und Retter der vermeintlich jüdischen Nathan-Tochter Recha wirklich schweren Konflikten und Gefühlswallungen ausgesetzt – diesen aufgewühlten Part aufs Wort zu verpflichten und ihn so zu zügeln, bedeutet eine heikle Gratwanderung.
Recha wird in der Erlanger Inszenierung beinahe als Einziger „die lange Leine gelassen“: Violetta Zupancic nutzt diesen Jungmädchen-Freiraum geschickt, ohne dass ihre Genauigkeit leidet. Bei ihrer „Gesellschafterin“ Daja (Marion Bordat) wird das strenge Korsett der Ott-Regie hingegen zur fast erstickenden Fessel – Bordats Leidenschaft als christliche Strippenzieherin wird spürbar, sie darf aber offenkundig nicht zu sehr „aus der Rolle fallen“. Mit den Füßen scharrt auch Christian Winciercz als Derwisch: Großartig, was er nur mit Sprachnuancierung aus seiner eher kleinen Rolle macht. Per Video eingespielt wurde Steffen Gräbner als „Patriarch von Jerusalem“ - wohldosierter und dennoch starker Kurzauftritt. Linda Foerster als Sultan-Schwester Sittah könnte heutzutage glatt als nicht integrationswillige Kopftuchträgerin fehlinterpretiert werden, dabei sollte sie laut Lessing doch nur ein wenig intrigieren: Nun denn - Ulrike Schlemm (Kostüm) war womöglich hin- und hergerissen zwischen „Sparen“ und dem Gebot der Regie, nichts optisch Ablenkendes zu liefern.
Der Erlanger „Nathan“ mitsamt der im Kern stehenden „Ringparabel“ von der Legitimation bzw. Fragwürdigkeit allen Glaubens erntete für sein deutlich prononciertes Sprechtheater verdienten Beifall, doch wie dankbar die Leute zwischendurch für noch so kleine Auflockerungen des Lessing´schen Kopfkinos gewesen wären, merkte man am Pausenfüller: Martin Maecker, der im Stück eigentlich den „Klosterbruder“ gab, fegte mit einem Kehrbesen den Bühnenrand und kalauerte dazu: „Wie heißt Schnecke auf Arabisch?“ - „Is lahm.“
Die Botschaft Lessings wäre gewiss auch weniger wortlastig angekommen: „Andersdenkende als bereichernd, als Wegbereiter bei der Annäherung an die Wahrheit“ zu begreifen, wie es die dramaturgische Assistentin zur Einführung zusammengefasst hatte. Heute ist diese Forderung dringlicher denn je.