„Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich“, sagt Karoline am Ende dieses denkwürdigen Oktoberfestbesuches, „aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen.“
Dieses Gefühl des „Nie-dabei-gewesen“ ist ein Grundmotiv in Ödön von Horvaths Volksstück „Kasimir und Karoline“, das ausschließlich auf dem Oktoberfest spielt, laut Regieanweisung Horvaths „in unserer Zeit“. Der Dramatiker mit ungarischem Pass und deutscher Muttersprache, der lange Zeit in Murnau lebte, dem die deutsche Staatsangehörigkeit aber verweigert wurde, meinte mit dieser Angabe die Zeit der Weltwirtschaftskrise in den späten Zwanziger Jahren. Doch tatsächlich ist „Kasimir und Karoline“ ein jung gebliebenes Volksstück, das in jeder Gegenwart seine Gültigkeit besitzt. So ist das Gefühl des Ausgeschlossenseins, der mangelnden Teilhabe durchaus auch ein gegenwärtig vorherrschendes Gefühl: in Umfragen zumindest dominieren Ängste vor sozialem Abstieg aufgrund der wirtschaftlichen Lage hierzulande und weltweit.
Regisseur Reinhardt Friese hat seine Inszenierung für das Theater Hof - die bunten Kostüme , Frisuren und Sonnenbrillen legen dies nahe - in die Siebziger Jahre verlegt, die aufgrund von der Ölkrise und internationalen Konflikten durch eine hohe Arbeitslosenzahl geprägt waren. Den Schauplatz Oktoberfest haben er und Kostüm- und Bühnenbildnerin Annette Mahlendorf dagegen extrem reduziert: einzig eine Anzahl von der Bühnendecke herabbaumelnde rote Birnchen deuten an, dass es hier um einen Ort des Vergnügens geht. Die Drehbühne katalputiert immer wieder mal Vergnügungssuchende herein, die dann verloren eine Weile lang wie eingefroren dastehen, sich selber zu suchen scheinen und wieder herausdrehen. Das Anfangstableau gibt den Ton vor: da steht das ganze Ensemble, vereinzelt in Spotlights, den Blick stur und ein bisschen traurig in die Ferne gerichtet, einige essen Zuckerwatte oder einen rot kandierten Apfel, andere schleppen einen halbleeren Bierkrug wie ein lästiges Anhängsel mit sich. Aus dieser Konstellation entsteht die Vorstellung: einzelne begegnen einander zufällig, für den Moment flammt ein - wie auch immer geartetes - Interesse auf, dann erlischt dieses wieder und alle ziehen ihrer Wege.
So sind auch der gerade arbeitslos gewordene und aufgrund seiner Existenzängste nicht zu Vergnügungen aufgelegte, schlecht gelaunte Kasimir (Benjamin Muth) und seine Verlobte Karoline (Carolin Waltsgott), die einfach einen lustigen Abend haben möchte, ein Paar von vielen, die an diesem Ort enttäuscht werden. Der grobschlächtige, grundaggressive Merkl Franz (Dominique Bals), der seine Freundin Erna (Alrun Herbing) immer wieder grob misshandelt, ohne dass sie ihn deshalb verlassen würde; die sozial weiter oben auf der Leiter stehenden, aber deshalb nicht unbedingt glücklicheren alten Männer Rauch (Ralf Hocke) und Speer (Volker Ringe) versuchen noch, sich Glück zu kaufen, stehen sich dabei aber selbst im Wege; das Gegenbild dazu sind die beiden jungen, leidlich attraktiven Elli (Julia Leinweber) und Maria (Cornelia Wöß), die ihre Versuche, sich nach oben zu kämpfen, mit Alkohol erträglicher zu gestalten versuchen. Für die tragischen Ergebnisse dieser Erbärmlichkeiten ist der Sanitäter (Jörn Bregenzer) zuständig, der buchstäblich die Scherben zusammenkehrt bzw. die Wunden flickt. Den Soundtrack zu diesem Panoptikum der enttäuschten Sehnsüchte und gescheiterten Ziele liefert das Festzelt-Duo (Franz Tröger und Cornelia Löhr), die immer wieder - er an der Hammnd-Orgel, sie singend - den Schlager „Sag mir quando, sag mir wann“ anstimmen und dabei zunehmend betäubt werden.
Alen gemeinsam ist, dass sie im Vergnügen des Volksfestes ihrem enttäuschenden, teils von Existenzsängsten, teils von Resignation oder verlorenen Hoffnungen geprägtem Alltag zu entkommen suchen und dabei, wie nach einem gehörigen Rausch, irgendwann umso ernüchteter in eben diesem Alltag wieder landen. Und da es keinem gelingt, tatsächlich den anderen, die andere zu verstehen und in eine echte, auf Respekt gegründete Beziehung miteinander zu treten, bleibt nichts als das Gefühl, nicht dazuzugehören. Vielleicht macht gerade diese mehr psychologische denn soziale Analyse - welche die Hofer Produktion durch die konsequente Reduktion ausgezeichnet offenbart hat - die Zeitlosigkeit von Horvaths Stück aus.