Gewöhnung geschieht schleichend, und so schleicht sich das Unangenehme unmerklich ins Bewusstsein. Das Grau der Städte zum Beispiel: niemand hätte sich aus freien Stücken dafür entschieden, doch der Alltag aus Weckerklingeln-Berufsverkehr-Arbeit hat diesen Farbtopf gerührt und die Fassaden, die Straßen, sogar den Himmel über der Stadt grau angestrichen. Der Feinstaub tut das Seine dazu - und auf einmal wachen die Menschen in einer grauen Stadt auf und können sich gar nicht mehr vorstellen, dass man Häuser, Brücken und Parkbänke auch in andere Farben hüllen könnte. So ist es in „Zinnober in der grauen Stadt“, jenem Kindertheaterstück, mit dem United Puppets aus Berlin heute vormittag in Gauting gastierten.
Das Theaterstück für zwei Schauspieler, Notebook und Projektion basiert auf einem Kinderbuch von Margret Rettich und erzählt die Geschichte des Malers Zinnober, der die Farben dieser Welt liebt, das Maigrün, das Zitronensorbetgelb, das Meer-an-einem-Sommersonnenmittag-Blau. Zinnober hat das Pech, in einer grauen Stadt zu leben, in der die Menschen, seine Kunden, sich gar keine Farben mehr vorstellen können und den Maler immer wieder damit beauftragen, das Grau ihrer Fassaden zu erneuern. Maximal Schwarz lassen sie als Variante noch zu. Eines Tages beobachtet Zinnober von der Malerleiter aus, wie zwei Kinder den Asphalt unter ihm mit bunten Bildern bemalen. Es gibt also doch noch andere Farbliebhaber außer ihm in der Stadt. Und nach anfänglichen Schwierigkeiten formieren sich der Maler und die Kinder zu einer Farbguerilla, die der Stadt zu neuem Leben verhilft.
Philipp Michael Börner und Melanie Sowa spielen in der Regie von Mario Hohmann diese Geschichte als ein Plädoyer für ein buntes Miteinander unter dem Primat der Toleranz. Dabei setzt die Regie auf ein genreübergreifendes Konzept aus Schauspiel, Erzähltheater, Schattenspiel, Geräusch-Hörspiel und Live-Graffiti. Am Anfang steht die Erzählung: während Melanie Sowa (die sich im „Streit“ um diesen Part durchgesetzt hat) die Geschichte der Stadt von ihren Anfängen bis in die Gegenwart hinein schildert, zeichnet Philipp Börner den Fluss, das Müllerhaus und alle später hinzukommenden Gebäude live auf dem Tablet, projiziert auf eine große Papierrolle, die auf der Bühne hängt. Später verwandelt er sich in den Malermeister Zinnober, während Melanie Sowa nun das Live-Zeichnen übernimmt. Eine Filmprojektion überblendet später die Zeichnungen, ein live aufgenommener Geräusch-Teppich wird zum Soundtrack. Wieder später werden die beiden Schauspieler zu den Kindern Paula und Jonas, die Farbe in das Leben von Zinnober bringen.
Die Grenzen zwischen den einzelnen Bühnengenres verschwimmen, so wie die Dominanz des Grau unter der Farbigkeit aus Lebens- und Spiellust immer mehr abnimmt und irgendwann fort ist. So lässt sich eine Geschichte mit zeitgemäßen Mitteln erzählen. Fraglich ist nur, ob das dem künstlerischen Erfahrungshintergrund von Vierjährigen entspricht oder eher jenem, den sich Erwachsene für diese Altersgruppe ausdenken. Den Sieg von Farbe und Phantasie über eine technisch geprägte Grauwelt kann man genaugenommen auch über das Alleinstellungsmerkmal dieser Phänomene darstellen: Reduktion auf das Wesentliche. Und das kommt sogar ganz ohne Strom aus - mit Farbe und Phantasie.