Ein Tisch, ein Stuhl, dahinter eine Flipchart. Ein Datum, eine Uhrzeit, ein metallenes Geräusch. Arbeit und Struktur. „12.3.2010 12:20. Ich darf nirgends allein hin. Mit der Praktikantin bei der Strahlentherapeutin Dr. Zwei, Bilder abholen. In der Angst, die ich noch vom letzten Mal her verspüre („Sie haben da einen zweiten Herd, falls Sie´s nicht wussten“), klammere ich mich am Arm der Praktikantin fest. Befund nach MRT weiter unklar.“
Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf hat sich im August 2013 das Leben genommen, drei Jahre nach der Diagnose Hirntumor. Drei Jahre Krankheit, Chemo- und Strahlentherapie, Rezidive, OPs. Drei Jahre Arbeit an Manuskripten, vor allem an der Entwicklung einer Geschichte für Isa, das Mädchen aus seinem inzwischen höchst erfolgreichen Roman „Tschick“. In diesen drei Jahren schreibt Herrndorf einen Blog, ein Internet-Tagebuch, in dem er stichwortartig festhält, wie es ihm geht, was die Krankheit macht, was sie mit ihm macht.
„23.4.2010 13:15. Wir treffen uns wieder in meinem Paradies/Und Engel gibt es doch/In unseren Herzen lebst du weiter/Einen Sommer noch/Noch eine Runde auf dem Karussell/Ich komm`als Blümchen wieder/Ich will nicht, dass ihr weint/Im Himmel kann ich Schlitten fahren/Arbeit und Struktur“
„Arbeit und Struktur“, lautet der Titel der Buchausgabe, mit der Herrndorfs Verlag Rowohlt Berlin den Blog nach dem Tod des Autors als Buch herausgibt. Matthias E. Friedrich liest, spielt eine gekürzte, von Werner Gruban eingerichtete Fassung des Buches in der bar rosso, am Vorabend der Aufführung von „Bilder deiner großen Liebe“ im bosco. Es ist eine hochintensive, dichte Lesung, mehr noch ein Spiel. Mit feiner Ironie und einer ausgewogenen Balance aus flapsiger Distanz und großer Nähe gelingt dem Gautinger Schauspieler und Musiker Friedrich das Porträt eines Künstlers, der seine Sprache verliert und mit dieser sein Lebenselixier, jene Kraft, die ihn sein lässt. Es ist nicht wirklich ein Kampf gegen eine Krankheit, von dem an diesem Samstagabend die Rede ist - vielmehr geht es um die Bestandsaufnahme dessen, was jenseits der Körperlichkeit Bestand hat.
Gerade in der komprimierten Form, mit der Herrndorfs Blog hier „auf die Bühne“ gestellt wird, gerät eine Urproblematik der Künstlerexistenz in den Blickpunkt: das vergebliche Ringen um Ausdruck, der ständige Kampf gegen den Faktor Zeit. Gerade, als bei Wolfgang Herrndorf zum ersten Mal ein Glioblastom diagnostiziert wird, nimmt sein lange als Manuskript in der Schublade zum Schlummern verdammter Jugendromanstoff um zwei Jungen und ein geklautes Auto an Fahrt auf, wird zum Buch, wird zu einem unerwarteten Erfolg und in den Monaten darauf zu Schullektüre. Die Öffentlichkeit will mehr von diesem Schriftsteller, der Verlag möchte an den Erfolg anknüpfen, und Wolfgang Herrndorf selber möchte schreiben, erzählen, arbeiten. Seine unverwechselbare Sprache, dieser aufgrund einer ganz eigenen Schnoddrigkeit so poetische Tonfall, der auch den Blog kennzeichnet, bekommt seine Gestalt genau in dem Moment, als ihm selber klar ist, dass er nicht mehr in einem „immer so weiter“ wird denken können. Noch bleibt ihm seine Sprache. Doch unbarmherzig nimmt die Krankheit ihm diese Stück für Stück weg. Nirgends ist dieser Verlust so klar, so sachlich und unendlich traurig und doch auch wieder mit einem besonderen, schönen Humor dokumentiert worden wie in „Arbeit und Struktur“.
Die Sprache Herrndorfs liegt Matthias E. Friedrich, er hat sie sich zueigen gemacht, jongliert mit ihr, spielt mit ihr, lauscht ihr die Zwischentöne ab. Es ist diesem Schauspieler zu danken, dass der Abend trotz der Schwere und Tragik des Themas ein genussreicher Abend war, einer, an dem in jedem Moment die Stimme und das Werk eines großartigen Erzählers präsent waren. Doch, Engel gibt es und Struktur ist mehr als Zeichensetzung und Absätze.