Die beiden Giganten der Klavierliteratur, Beethoven und Liszt, sich an einem Abend mit einem derart anspruchsvollen Repertoire vorzunehmen, zeugt im Grunde von jugendlichem Übermut. Bei Yulianna Avdeeva trifft es aber wohl kaum zu, denn selbst nach dem dritten Teil, den zwei ausgedehnten Chopin-Zugaben (Nocturne cis-Moll op. posth, und Polonaise As-Dur op. 53), zeigte die junge Pianistin keinerlei Ermüdungserscheinungen. Das lag wohl nicht nur an der großartigen Technik Avdeevas und ihrer energiegeladenen Konstitution, sondern auch an ihrer Effektivität im Einsatz der Ressourcen, die sich schon durchaus einem männlichen Zugriff ebenbürtig zeigte. Ihr entschiedener Gang zum Flügel kündigte im Grunde schon an, was hier im ausverkauften bosco-Saal folgen würde.
Avdeeva eroberte das Publikum denn auch im Sturm, was vor allem daher kam, dass sie jeder Satzbezeichnung ein Noch-mehr-Davon drauflegte, was sich letztendlich in starker, kontrastreicher Expressivität äußerte. Die zarten Momente Beethovens Les-Adieux-Sonate hätte nicht leiser, fragiler kommen, die Grandioso-Momente Liszts h-Moll-Sonate indes auch kaum imposanter erklingen können. Avdeevas spieltechnische Gewandtheit gab ihr ein schier endloses Spektrum an Möglichkeiten der Differenzierung an die Hand. Und sie nutzte es und genoss es in vollen Zügen. Anschlagstechnisch schöpfte die Russin aus dem Vollen. Doch ihre Hände galoppierten ihr nicht selten davon und ließen die Empfindungen Avdeevas weit hinter sich. Es schien bisweilen so, als beobachte sie selbst, was da ihre Hände für wunderliche Dinge tun.
Das soll allerdings keinesfalls heißen, sie hätte nicht hingebungsvoll und engagiert gespielt. Ganz im Gegenteil. Insbesondere in den drei düsteren Werken Liszts – „La lugubre gondola“, „R.W. Venezia“ (in Memoriam Richard Wagner) und „Unstern!“ – zeigte Avdeeva Tiefgang im Ausdruck und eine Meisterschaft, selbst den monotonsten Passagen dramaturgische Entwicklungen zu entlocken. Doch Avdeeva wahrte eine gewisse Distanz und behielt lieber die Übersicht aus großer Höhe anstatt sich mit Leidenschaft der Musik hinzugeben. Sie zog es zudem vor, den Blick aufs Ganze zu richten und sich nicht von Details in Beschlag nehmen zu lassen.
Ein solcher Blick von weit oben hatte aber auch eindeutige Vorteile, vor allem in den beiden Beethoven-Sonaten, Nr. 26 Es-Dur, op. 81a „Les Adieux“ sowie Nr. 27 e-Moll, op. 90, sind sie doch in der Art einer Fantasie entwickelt, charakterisiert von einem organischen emporwachsen und hervorgehen. Dabei erwies sich Avdeevas Klarheit und Transparenz im Spiel als extrem wichtig, blieb doch die weite Entwicklung absolut schlüssig und überzeugte gänzlich im organischen Aufbau. Sparsam im Pedaleinsatz blieb auch alles exakt konturiert ohne Verwässerung und Verschleifung jeglicher Art.Mit perlender Pianistik ging Avdeeva auch an die 32 Variationen über ein eigenes Thema c-Moll, WoO. 80 Beethovens heran und machte jede der Variationen zu einem Charakterstück von stark ausgeprägter Eigenheit. Das Chaconne-Thema mit der absteigenden chromatischen Linie lud im Kontrast dazu zu fahrigen Antworten der Variationen ein. Avdeeva zog hier auch alle Register pianistischen Könnens, die brillanten Variationen der jeweiligen Charakteristik adäquat zu formen, bis hin zu überaus orchestralen Varianten, für die es der Pianistin auch nicht an Kraft fehlte. Und das imponierte dem bosco-Publikum, das dafür lang anhaltende Ovationen spendete.