Nach(t)kritik
Abenteuerreise im Weltraum der Seele
Veranstaltung: Holzheimer-Reihe "Ich und die Welt" (1): Ganz so, wie ich binZu einer einer neuen Abenteuerreise durch die Literaturgeschichte hat Gerd Holzheimer in diesem Herbst eingeladen – und seine Reisegruppe erwartete ihn abfahrtsbereit und mal wieder auf alles gefasst am Dienstagabend in der bar rosso. Nicht nur Sitzvermögen und geistvoller Proviant waren für die erste Etappe vonnöten, auch Haltegriffe und Sicherheitsgurte: „Jetzt halten Sie sich fest“, forderte der literarische Reiseleiter mehrmals an diesem Abend. Und dabei führte die erste Etappe doch „nur“ zum eigenen Ich: Mit „Ganz so wie ich bin“ war sie überschrieben. Der furiose Literatur-Trip freilich führte von Weimar nach Zürich und wieder zurück – ein Zwischenstopp in Miesbach wurde mit quietschenden Reifen eingelegt.
„Daß ich dir's mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“ Dieser Satz aus Goethes „Wilhelm Meister“ stand nicht nur über, sondern auch am Anfang des Abends. Der Schauspieler und Sprecher Hans Jürgen Stockerl, der die literarischen Textpassagen vortrug, wurde nicht müde, ihn zu wiederholen. Ausgehend von Goethes Bildungsroman, vom Bemühen, sich selbst zu gestalten und aus der Unordnung Ordnung für das eigene Leben zu schaffen, zog Holzheimer eine wie immer wundersam mäandernde Linie bis zum Begründer der analytischen Psychologie, dem Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung und seiner Lehre vom Unbewussten. Unter Bildung, so erläuterte Holzheimer, verstand man zu Goethes Zeiten den Versuch einer ganzheitlichen Harmonisierung von Körper, Geist und Seele. Und um das Erreichen einer bewussten Ganzheit unter Einbeziehung des Unbewussten, des eigenen „Schattens“, ging es später auch in der Psychoanalyse, wie sie von Jung formuliert wurde. Von Goethes Forderung, „das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche zu verehren“ bis zu Jungs Sich-Einlassen auf den Mythos und das Unerklärliche sei es nicht weit. Bei Goethe wie bei Jung sei die Suche nach einem Einklang von Natur und Kunst zu finden. Und hier wie dort bedürfe es schließlich des Menschen, „der glücklich ist über die Schöpfung“.
Langeweile kam auf dieser Reise im Weltraum der Seele sowieso in keiner Sekunde auf. Und dafür sorgten nicht nur der Geheimrat als Handpuppe aus dem Goethe-Shop in Weimar und das Jean-Paul-Bier aus Bayreuth als Requisiten auf dem Lesetisch, sondern auch die literarischen Passagiere, die Holzheimer mal hier und mal da an Bord holte: Gustav Meyrinck aus Starnberg fuhr eine kleine Wegstrecke mit und warf mit der „magischen Biografie“, die jeder Mensch habe, einen seiner geheimnisvoll-unergründlichen Gedanken in die Runde. Auch der unvergessliche Wolf Euba, der C. G. Jung nicht mochte, stieg irgendwann zu und fuhr als wehmutvolle Erinnerung für den Rest des Abend mit. Und dann entstieg zum furiosen Finale einer banalen Zeitungsnotiz jene Gruppe von Indianern, die zum Zwecke der Erforschung des Brauchtums als Bestandteil der alpenländischen Volkskultur im Jahr 1976 nach Miesbach gereist war und zum Dank für die dargebrachten Landler und Zwiefachen einen Regentanz zur Aufführung brachte – worauf sich binnen einer Stunde der strahlende Maihimmel verfinsterte und es zu regnen begann, sodass, wie der anwesende Lokaljournalist trocken bemerkte, die Veranstaltung im Saal fortgesetzt werden musste.
Ein Wunder war es ohnehin, dass bei dieser wunderlichen Reise zum eigenen Selbst abgesehen von der im Lauf des Abends immer geheimnisvoller anmutenden roten Beleuchtung keine Geisterscheinungen und Botschaften aus dem Jenseits auftauchten und bis zuletzt kein einziger Regentropfen in der bar rosso fiel.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.