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Nach(t)kritik

Mo, 18.09.2023
19.00 Uhr

Abrissbirne gegen die Gewöhnung

Veranstaltung: Daniel Chatard: Niemandsland

„Traurig, aber nur für den, der es versteht“, hat Willy unter das Foto des gigantischen Braunkohle-Tagebaugebiets mit dem riesigen Bagger am Rand des Gebiets geschrieben. Willy musste dem Tagebau weichen: sein Dorf wurde umgesiedelt, sein Haus zerstört. „In der neuen Heimat noch nicht angekommen“, schreibt er zu einem anderen Foto, das die Neubauten im Ersatz-Dorf zeigt. „Niemandsland“, heißt die Ausstellung mit Bildern des deutsch-französischen Dokumentarfotografen Daniel Chatard, mit der das bosco in die neue Spielzeit startet.

Das Thema könnte aktueller kaum sein. Daniel Chatard dokumentiert in seinen analog fotografierten Bildern den Zusammenhang zwischen Energiebedarf und Umweltzerstörung anhand von - scheinbaren - Momentaufnahmen: ein leerstehendes Baumhaus im Hambacher Forst; eine fast klinisch weiße Neubau-Siedlung mit identischen Fertighäusern; Polizisten in voller Montur und mit Helmen, die einen sehr zart wirkenden Demonstranten wegtragen; Menschen auf einem Aussichts-Plateau über der vom Tagebau zerfrästen, zerstörten Landschaft. Alle Aufnahmen entstanden rund um die Tagebaue Hambach und Garzweiler II und zeugen vom Ausmaß des Konfliktes: ein Alltag auf dem fragilen Boden des einst begehrten und längst umstrittenen Rohstoffs.

Die Kommentare des Zeitzeugen sind in einem Buch zu finden, in dem Daniel Chatard seine Fotografien zusammengestellt und den Menschen der Region vorgelegt hat. In ihren teils anonymen Kommentaren sprechen sie aus, was viele von ihnen öffentlich nie zu sagen gewagt haben: ihre Ängste, ihre Beobachtungen, auch ihre Wut. Denn der Widerstand gegen die Zerstörung war nicht von Anfang an da, er wuchs erst allmählich - so wie auch die Erkenntnis, an einer Abbruchkante zu leben, sich erst von der Gewöhnung an diesen Zustand lösen musste.

Diesen Prozess der allmählichen Gewöhnung an eine Krise und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, erläutert Chatard in seinem Vortrag am Tag der Ausstellungseröffnung anhand des Begriffes der „Creeping Crisis“. Die Wissenschaftler Arjen Boin, Magnus Ekengren und Mark Rhinard benennen mit diesem Begriff das Phänomen des langsamen, aber stetigen Anschwellens einer kritischen, gefährlichen Lage, die aufgrund ihrer Beschaffenheit als „Hintergrundrauschen“ kaum wahrgenommen wird. Willy, der Tagebau-Zeitzeuge, erklärt es am Beispiel eines Autounfalls: wer bei einem lauten Crash sich Arme, Beine und auch noch die Nase bricht, landet auf der Inetnsivstation und wird mit großer Aufmerksamkeit behandelt; wer sich hingegen einmal ein Bein und Jahre später einen Arm und noch etwas später die Nase bricht, wird eher behandelt nach dem Motto „Unkraut vergeht nicht“.

Vor diesem Hintergrund werden die Bilder der Ausstellung „Niemandsland“ zu stummen Zeugen einer Creeping Crisis. Doch wer genau hinsieht, hört sie laut schreien. Am lautesten schreit das Bild, auf dem die Abrissbirne in ein altes Kirchengebäude hineindonnert. Alle haben seit Jahrzehnten gewusst, dass dieser Moment kommen wird. Doch erst, als die Kirche dem Tagebau-Bagger weichen muss und in sich zusammenstürzt, wird die schleichende Krise zur realen Bedrohung. Wird wahrgenommen. Und da die Kirche längst verschwunden ist, braucht es Ausstellungen wie diese, die einen Widerhaken setzen in der schleichenden Krise der Unaufmerksamkeit.

Sabine Zaplin, 19.09.2023


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Mo, 18.09.2023 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.