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Nach(t)kritik

Mi, 09.10.2024
20.00 Uhr

Auf dem dünnen Eis der Deutungshoheit

Veranstaltung: Metropoltheater München: "Slippery Slope - Almost a Musical" von Yael Ronen und Shlomi Shaban - barrierearme Aufführung

Es ist die „magische Nacht der Bekenntnisse“: Musiker Gustav möchte sein Come-Back feiern, nachdem ihn ein medialer Skandal um seine Person zum unfreiwilligen Abtauchen gezwungen hat; Tictoc-Star Sky, die einst von Gustav entdeckt wurde und den Anlass rund um Gustavs Rückzug bot, ist in den Verdacht geraten, sich unrechtmäßig kultureller Elemente der Roma-Musikszene bedient zu haben; die investigativ arbeitende ehrgeizige Journalistin Stanka hat das Leben einer Pornodarstellerin, deren Schicksal sie mit einer ihrer Reportagen öffentlich gemacht hat, auf dem Gewissen; und Gustavs Frau Klara, Chefin einer Zeitung mit emanzipatorischen Zielen und mit eigenen politischen Ambitionen, hat ebenfalls eine ziemlich große Leiche im Keller, von der mindestens ihr Mann Gustav wissen dürfte. Alle vier, die einander beäugen, verdächtigen, an den Pranger stellen, bewegen sich auf äußerst dünnem Eis, auf „Slippery Slope“ - so der Titel des Stücks von Yael Ronen und Shlomi Shaban.

Cancel Culture, Cultural Appropriation, Rassismus, Sexismus und Machtmissbrauch sind die Themen des „Fast“-Musicals, das vom Metropoltheater unter der Regie von Philipp Moschitz als rasanter Reigen auf die Bühne gestellt wird, die Thomas Flach mit  Glitzervorhängen umrahmt und nach hinten mit ineinander geschachtelten Rahmen zu einem unendlichen Bild(er-)schirm gestaltet hat. Es geht darum, wer die Erzählhoheit besitzt, wessen Narrativ das stärkste, überzeugendste ist und wem damit die Macht zufällt, die Fäden ziehen zu dürfen. Der Kampf um die Deutungshoheit ist eröffnet, die Arena ist gut gefüllt - lasst die Löwen los!

René Dumont spielt Gustav, den in die Jahre gekommenen Musiker: noch immer versteht er nicht ganz, warum er seine Hits vom Klezmer-Album oder von seinem so höchst erfolgreichen Roma-Album nicht mehr singen darf und weshalb man es ihm so übel genommen hat, dass er den Reizen dieser jungen Frau, Sky, so vollkommen erlegen ist. Zwischen Zerknirschung und selbstherrlicher Vorgestrigkeit ist dieser Gustav eine traurige Gestalt aus einer zum Glück vergangenen - aber doch immer wieder aufflackernden - alten Zeit (die nie gut war).

Gustavs Frau Klara ist bei Judith Toth eine toughe Karrierefrau, die sich als engagiert im Namen der Entmachteten und Ausgebeuteten gibt, der Frauenbewegung eine Stimme verleihen will und mit größtem Selbstbewusstsein auf der richtigen Seite zu stehen scheint. Ihr wunderbarer „Queen Size Bed blues“ offenbart, abseits von Licht und Glamour, sehr fein gezeichnet ihre verletzliche Seite.

Ina Melings Stanka Sto ist eine bossy auftretende Medienexpertin mit extrem guten Gespür für skandalträchtige Geschichten, die sie als notwendige Geschichten im Sinne des Rechts der Allgemeinheit auf Aufklärung auszustatten weiß. Dass sie selber dabei sprichwörtlich wie tatsächlich über Leichen geht, setzt ihr mehr zu, als sie sich zugestehen kann.

Sky wird von Stephanie Marin in ihrer ganzen Entwicklung gezeigt, angefangen vom naiven Hippygirl im Gipsy-Style über den rasanten Aufstieg zum hippen Tictoc-Star mit unzähligen Followern bis zum tief gefallenen Cancel-Opfer, das selber genau weiß, wieviel davon ihr zu Recht und wieviel unrechtmäßig vorgeworfen wird - da sie selber nur allzu gern auf dieselbe Weise agiert.

In zahlreichen weiteren Rollen - als Agentin, als Skys schillernder Duo-Partner, als Krisenkommunikations-Manager mit den richtigen Strategien für die nicht selten selbst erzeugten Skandale - ist Philipp Moschitz, extrem wandelbar und somit auf mehrfache Weise dem Thema entsprechend agil, ausgestattet mit Glitzercharme, Glamour und Travestie, ein wahrer Showbizz-Profi.

Aber singen (für die musikalische Einstudierung zeichnet Alan Sokol verantwortlich) und tanzen (in der Choreographie von Katja Wachter) kann das ganze Ensemble hervorragend, so dass dieser humorvolle, musikalische Abend vor allem sehr viel Spaß macht. Und das ist auch bitter nötig bei den Themen, die seit längerem die öffentliche Debatte bestimmen und durchaus vergiften: wenn Cancel Culture und der Streit um die Deutungshoheit in Fragen von Rassismus oder Kultureller Aneignung den Blick darauf mit einem Lächeln, einem Augenzwinkern, dem gesunden Abstand des Humors vermissen lassen, gehen wir wahrlich finsteren Zeiten entgegen. So war die Entscheidung des Metropoltheaters, Yael Ronens „Slippery Slope“ als künstlerische Antwort auf den so schmerzhaften, medial stark bespielten Vorgang rund um „Die Vögel“ von Wajdi Mouawad, welcher schließlich zum Absetzen des Stücks führte, in jeder Hinsicht richtig und erkenntnisbringend. Unbedingt anschauen!

Sabine Zaplin, 09.10.2024


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.