Nach(t)kritik
Aus dem Brunnen geschöpft
Veranstaltung: Heimspiel zum Themenschwerpunkt: Ensemble Zikoron "Amol is gewen in a goldenem land"Es sind Geschichten aus einer verlorenen Vergangenheit: das kleine Häuschen in der dunklen Gasse in Krakau am Abend, die Mutter an der Wiege ihres Kindes, das Versprechen des jungen David an seine Geliebte. „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“, zitiert Lena Bittl, die Sängerin des Ensembles Zikoron, am Anfang des Konzertes Thomas Mann, mit dem er sein großes Werk „Joseph und seine Brüder“ beginnt. Und gewissermaßen geht es an diesem Abend auch um Joseph, seine Brüder, seine Nachfahren. Zikoron ist jiddisch und bedeutet Erinnerung. Gewissermaßen ist das ganze Repertoire des sechsköpfigen Ensembles auf das Erinnern ausgerichtet.
Die Besetzung, neben Lena Bittl bestehend aus Corinna Schröder (Violone und Gesang), David Herber (Klarinette), Annette Schmid (Gitarre und Gesang), Heiko Schaaf (Kontrabass) und Bernhard Bittl (Akkordeon und Gesang) setzt in der Instrumentierung einen deutlichen kammermusikalischen Akzent. Der für die Arrangements verantwortliche Bernhard Bittl lässt viel Spielraum für die instrumentale Ausgestaltung der musikalischen Motive und führt ganz nebenbei, gemeinsam mit Lena Bittl, in die Geschichten ein, die in den Liedtexten erzählt werden. Das ist teils sehr charmant, manches erfährt sogar eine nahezu suenische Umsetuung. Doch die Qualität des Ensembles liegt vor allem in der musikalischen Vielfältigkeit und Intensität. Es ist deutlich zu spüren, dass die sechs Musikerinnen und Musiker mit ihren Instrumenten und Stimmen den Besonderheiten dieser aus dem ashkenasischen Judentum stammenden Volksmusik, die im 15. Jahrhundert ihre Anfänge nahm und seitdem vielfältige Ausdrucksformen angenommen hat, mit großer Begeisterung nachspüren und auf ihren Instrumenten wie auch gesanglich davon erzählen. In Stücken wie „Yidl mitn Fidl“, das beinahe konzertant beginnt, klingt diese musikalische Vergangenheit ebenso mit an wie die Weiterentwicklung durch andere Einflüsse osteuropäischer Musik.
Ein Schwerpunkt des Abends lag eindeutig auf den schwermütigen, getragenen Klängen - durchaus passend zur Jahreszeit und zur gegenwärtigen Stimmung. Da waren Titel wie „Bei mir bist du schejn“ wohltuende Aufmunterungen. Letzteres zeigte einmal mehr, wie sehr Klezmer in die populäre Musik, beispielsweise Jazz und Blues, eingedrungen ist. Überwiegend aber wurde doch den Ursprüngen nachgespürt, wie es schon der Konzerttitel nahelegte: Amoi is gegen in a goldenem land.
Der Abend stand im Zusammenhang mit dem Themenschwerpunkt „Jüdisch. Deutsch. Ganz normal“. Und tatsächlich ist es längst „ganz normal“, dass Klezmermusik, seit das Duo Zupfgeigenhansl mit seinem Album „Jiddische Lieder“ in Erscheinung getreten ist, von zahlreichen deutschen Ensembles interpretiert wird. Wenn man in der Konzertpause dann vor den Fotos von Noah Cohen steht und in die Augen der Portraitierten blickt, stellt sich vielleicht doch ganz zaghaft die Frage, warum gerade dieser Blick zurück in den tiefen Brunnen der Vergangenheit musikalisch häufiger geworfen wird als einer in die Gegenwart oder gar in die Zukunft. Zu erzählen gäbe es da ja genug.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.