Nach(t)kritik
Der Hörweltenwanderer
Veranstaltung: Michael Wollny solo: Jazzpiano von WeltrangIm vergangenen Herbst hat Michael Wollny viel Ligeti gespielt, nicht alleine, sondern im Duo mit dem klassischen Klavierkollegen Pierre-Laurent Aimard. Er meint, er sei seitdem dabei, sein Instrument wieder neu zu lernen. Tatsächlich klingt er anders als früher, dringlicher an manchen Stellen, freier an anderen. Dabei gehört Wollny in der deutschen Jazzwelt eh schon zu den Künstlern, denen man wenig Vorbilder anhört. Seine Leichtigkeit wirkt selbstbestimmt, sein Flow folgt einer Idee von spürbarer Gegenwart, die sich von Modellen anderer löst. Zwar integriert er Motive von Tori Amos, Timbre Timbre oder Rudolf Hindemith in sein Programm und bezieht sich auf prägende Gestalten der eigenen Klavierbiographie wie Chris Beier oder Joachim Kühn. Es sind jedoch eher Ahnungen als Vorgaben. Sie dienen als Startpunkte für einen Bogen, der sich über lange musikalische Distanzen der beiden Konzertblöcke spannt.
Denn Michael Wollny interessiert sich für die Innensichten der Musik. Er experimentiert mit Kontrasten wie Harmonie und Disharmonie, Sanftheit und Vehemenz, Verharren und Geschwindigkeit. Mal geht es um das Erkennen von vertrauten Strukturen, mal um das Bröckeln der wahrnehmbaren Sicherheit. Melodien münden in Cluster, rhythmische Passagen in fließende Auflösung. Die gestalterischen Gegensätze sind stellenweise extrem, in der Dynamik, dem Spiel mit harmonischen Assoziationen, auch mit verschiedenen Denkschulen des Klaviers, die sich auf Ästhetiken von Wohlklang oder wilder Expression beziehen. Michael Wollny schafft es jedoch, diese Unterschiede in seiner Person und zugleich in verblüffend stiloffener Spielkompetenz aufzuheben. Er leitet sein Publikum im nahezu ausverkauften Bosco von der Überraschung, vielleicht auch der anfänglichen Irritation über die partielle Heftigkeit des Ausdrucks in eine Haltung der Offenheit, ihm in seine Welt zu folgen.
Und die Menschen lassen sich an der Hand nehmen. Am Ende wird Michael Wollny im Saal gefeiert. Er darf nicht mit „Little Person“ als Zugabe gehen, einer Ballade von Jon Brion aus dem Film „Synecdoche New York“, mit der er sich gerne harmonisch und atmosphärisch sanft in Solo-Konzerten verabschiedet. Er muss noch einmal ran und schickt Joachim Kühns „More Tuna“ als eine Art Avant-Garde-Boogie hinterher. Es zeigt auf diese Weise auch im Nachklang der großen Sequenzen sein inzwischen gewaltiges musikalisches Spektrum, das kaum spielerische Grenzen zu haben scheint. Und das ist es nicht allein. Man merkt über den Abend hinweg, das hier jemand mit sich selbst im Gespräch ist, sich verändern und verwandeln will. Da das auf einem Niveau abseits der üblichen Stil- und Spielzwänge geschieht, ist Michael Wollnys Solo-Konzert ein hinreißendes, manchmal auch schelmisch humorvolles Live-Erlebnis.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.