Nach(t)kritik
Die erdabgewandte Seite des Traumziels
Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Schatzinseln - Die exotische Kunstkammer„Dem Traum folgen und nochmals dem Traum folgen, und so usque ad finum“, schreibt Joseph Conrad, und dieser Satz könnte gleichsam als Motto über diesem Kapitel der „Kunstkammern“ stehen, denn es geht um die Schatzinseln, um jene Räume des Exotischen, die Traum, Sehnsucht und Fluchtpunkt gleichermaßen sind und nicht selten auch Orte des unbequemen Erwachens. Hinter jedem Traum lauert die böse Realität.
Zunächst aber lockt das Unbekannte, Ferne. Der Maler Oswald Malura, der zu der Schwabinger Künstlerclique der „Traumstädter“ zählte, dem „Seerosenkreis“, erhielt ein unerwartetes Stipendium, das er sogleich in eine Reise nach Indien investierte. Damals war es noch nicht üblich, einfach ein Flugzeug zu besteigen, was die Reise noch exotischer machte: Malura fuhr zunächst mit dem Zug von München nach Genua und bestieg dort das Schiff, das ihn ganz klassisch über das Meer in die erträumte Ferne brachte, um dort „die Früchte vom Baum zu greifen wie im Paradies“.
Auch andere Künstler reisten nach Indien, Hermann Hesse zum Beispiel, der sich dort auf Schmetterlingsjagd begab. George Orwells Ziel hingegen war Burma, nicht weniger exotisch. Orwell, der als Romancier den kritischen Blick in die Zukunft zu werfen gewohnt war, erkundete auch die unbekannte Umgebung aufmerksam und mit gutem Gespür für die Unstimmigkeiten unterwegs. Dass einem die manchmal, nicht zuletzt aufgrund mangelnder Beleuchtung, abhanden kommen können, diese Erfahrung hat Gerd Holzheimer, Initiator und geistiger Kopf der Reihe „Kunstkammern“, auf einer eigenen Birmareise gemacht: er war mit einer Gruppe von Biologen unterwegs und abends in düsterer Gegend zum Spaziergang unterwegs, wo die Abwasserkanäle offen lagen und einen üblen Geruch verbreiteten. Dieser hinderte die ihn begleitenden Damen nicht daran, sich angeregt miteinander zu unterhalten und darum gar nicht zu bemerken, wie der in ihrer Mitte gehende Holzheimer auf einmal in einem solchen Kanal verschwand - abgesunken in eine Kunstkammer des Exotischen und zugleich vollkommen der Realität Verpflichteten.
Es sind diese kleinen persönlichen Anekdoten, die - eingeflochten in die ausgezeichnete Lesung von Peter Veit, der die ausgewählten Passagen der Literatur des Exotischen höchst farbig und innere Bilder beschwörend las - dem Abend wieder einmal die besondere Note gaben. So wird der Grundgedanke der Kunstkammern-Reihe, die ganze komplexe Welt in einen kleinen, abgeschlossenen Raum zu stellen, plastisch und greifbar und das Stilmittel des Unvorhersehbaren konkret. Da mag dann jeder an seine eigenen Kanalsturzerfahrungen in Traumlandschaften denken - und schmunzeln oder schweigen.
Vom „Lederstrumpf“ las Peter Veit, von der „Schatzinsel“, „Robinson Crusoe“, dem "Dschungelbuch", und neben Orwell und anderen auch noch aus dem Buch „Der Papalagi“, das in den Siebzigern sehr populär war und die (wie sich später herausstellte, fiktiven) Reden eines Südseehäuptlings versammelte. Tatsächlich in die Südsee gereist war der Maler Paul Gauguin, auch er ist in dieser Kunstkammer vertreten.
Und so erhält die alte Frage nach den drei Dingen, die man auf eine einsame Insel mitnehmen würde, an diesem Abend eine ganz neue Bedeutung: einen Traum als Landkarte, einen Krümel als Stellvertreter für die alte zurückgelassene Welt, und ganz gewiss eine Taschenlampe. Denn wer mag schon gerne unterwegs verloren gehen?
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.