Nach(t)kritik
Die Liebe in Gedanken
Veranstaltung: Metropoltheater München: „Alice“ nach Lewis Carrolls "Alice im Wunderland"Wer ist Alice? Ein kleines Mädchen, das mit Puppen spielt? Eine junge Frau, die das Kind, das sie war, abgespalten hat? Ein verführtes Kind, Projektionsfläche für die Phantasien eines einsamen Mannes? Oder ist Alice eine Figur in einer Geschichte, die Mr Dodgson alias Lewis Carroll sich ausgedacht hat?
„Alice“, nach Motiven der Romane „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“, ist nach „The Black Rider“ und „Woyzeck“ der dritte und düsterste Teil der Trilogie von Tom Waits und Robert Wilson, mit der das Metropoltheater das Thema „Traum“ auf die Bühne bringt und Traumdramaturgien in Szene setzt. An drei aufeinanderfolgenden Abenden gastieren sie mit „Alice“ im bosco.
Und wie weit geht ein Traum? Traum, Trug, tragische Tragweite thronender Trapezkünstler. Philipp Moschitz inszeniert einen absurden Alptraum aus assoziierenden Artisten und altersloser Ahnungslosigkeit. Im Zentrum der Szene dreht sich ein aufrechtes Rad, mal Tor, mal Hamster- (oder Schicksals-)rad. Hier öffnen sich die Türen hinein ins Unbekannte, hier nehmen Traumfiguren Platz und werden im Drehen auf den Kopf gestellt. Das Rad trennt in ein Davor und ein Dahinter, in Oben und Unten, in Vorher und Nachher. Zugleich bietet es Fenster, die zur Bühne werden, die Einblicke freigeben und varietégleiche Auftrittsmöglichkeiten bieten.
Und was darf die Liebe? „Alice“ erzählt die Geschichte des Einzelgängers Charles Lutwidge Dodgson, das Drama eines begabten Kindes, das viel schneller verstand als alle anderen, aber von den anderen nicht verstanden wurde. Und das lag nicht allein an der Tatsache, dass Dodgson stotterte. Selbst zu früh zum Objekt der Begierde anderer, viel älterer geworden, verliert er sein Herz an das Mädchen Alice, ein Kind, das er gerne ansieht und sehr gerne fotografiert und das er am liebsten für immer vor bösen Träumen beschützen möchte. Also verwandelt er die Welt für Alice, verwandelt den Tag in einen Traum und sich selbst mal in ein Kaninchen, mal in einen guten Ritter. Alice gerät mitten hinein in Dodgsons Geschichte und muss sich darin zurechtfinden, an ihrer Seite eine kindgroße Puppe, die stumm mit ansieht, was Alice geschieht. Sprechende Blumen, ein scheues Reh, ein verrückter Hutmacher und eine Königin, die liebend gern Köpfe rollen sieht, dazu ein Rätsel aus wüst wirren Wörtern und Stabreimen, das sich Jabberwocky nennt und ungelöst zu bleiben scheint - Alice sucht in diesem wundersamen Land nach einem Ausgang, nach des Rätsels Lösung und nicht zuletzt nach sich selbst. Und vielleicht sucht Alice auch nach einer Erklärung für das, was zwischen ihr und Mr Dodgson geschieht, was sie verbindet und wie ein großer Schmerz für immer zwischen ihnen steht.
Das Ensemble des Metropoltheaters - Nick Robin Dietrich, Vanessa Eckart, Sebastian Grießle, Maria Hafner, Patrick Nellessen, Nathalie Schott und Thomas Schrimm - spielt, singt, tanzt - in der Choreographie von Katja Wachter - und erzählt die tieftraurige und unendlich schöne Geschichte um eine moralisch anzufechtende und aufgrund der Beschaffenheit der Liebe aber unerklärliche Leidenschaft, die versucht, sich selbst neu zu erfinden und damit - vergeblich - zu beherrschen.
Und wie ist die Musik? Tom Waits` Songs sind von großer Poesie, hier von den Schauspielerinnen und Schauspielern präsentiert mit Leidenschaft und Gespür für die Tragfähigkeit von Show und Schabernack.
Was aber ist Jabberwocky? All mimsy were the borogoves, and the mome raths outgrabe. Vielleicht ist es, mimsy und mome, der Versuch, die Zeit anzuhalten, und sei es nur für den Moment eines stehenbleibenden Bildes aus unschuldiger Schönheit. Doch das Rad der Zeit dreht sich unaufhaltsam weiter.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.