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Nach(t)kritik

Mi, 16.01.2019
20.00 Uhr

Die rote Bulldogge am oberen Treppenabsatz

Veranstaltung: Gerd Holzheimer "Auf geht´s: Zu neuen Ufern!" (3): Von Kraglfing nach Wahnmoching

Heutige Assoziationen zum Stichwort „Schwabing“ haben vermutlich mit Bodenpreisen zu tun, mit Luxussanierung und Edelboutiquen. Der eine oder die andere mag noch an Musikkneipen denken und daran, dass diese längst geschlossen sind. Dass von hier vor gerade mal drei Generationen kulturelle Aufbrüche ihren Anfang nahmen, wissen unter den heutigen Anwärtern auf Spekulationsobjekte vermutlich die wenigsten (ohne hier jemandem Unrecht tun zu wollen, darum „vermutlich“). Noch zur vorletzten Jahrhundertwende, jener vom 19. zum 20. Jahrhundert, lag Schwabing am Ende der Ludwigstraße als Vorort zwischen Wiesen, in den eine Prachtallee gesäumt von klassizistischen Bauten führte. Der Gemüsegarten vor der guten Stube, gewissermaßen. Damals veröffentlichte der noch ganz junge Ludwig Thoma seine erste Geschichte über ein fiktives Dorf namens „Kraglfing“. Es handelt sich dabei um einen sehr liebevollen Text, ebenso liebevoll gelesen von Caroline Ebner, die an diesem dritten Abend der literarischen Reihe „Auf geht’s: Zu neuen Ufern“ an der Seite von Gerd Holzheimer literarische Beispiele von politischen und kulturellen Aufbrüchen vorstellt.

Von Thoma`s Kraglfing zum wilden „Wahnmoching“ der legendären Gräfin Franziska zu Reventlow spannt Holzheimer diesmal den Bogen und versammelt unter demselben ein wildes Volk von Literaten und Revolutionären, von Satirikern und Anarchisten, die damals den immer noch nachklingenden Ruhm Schwabings begründeten. Neben dem streitbaren Thoma und der „erotischen Rebellin“, der Reventlow, waren das unter anderem Vertreter der Lebensreform-Bewegung, der Kämpfer gegen bürgerliche Moralvorstellungen Oskar Panizza und der Anarchist Erich Mühsam. Sie alle eint der Wille zum Aufbruch, die Suche nach einem ihnen und ihrer Zeit gemäßen sozialen Leben und eine sehr große Wachsamkeit gegenüber allen rückwärts gewandten Kräften. Hier konnte eine Satire-Zeitschrift wie der „Simplicissimus“ das Licht der Welt erblicken - und das Symbol dieser Schrift, die rote Bulldogge, begrüßte vor Beginn der Lesung das bosco-Publikum oben am Treppenabsatz. Holzheimer hatte die eindrucksvoll große Figur einst nach Abwicklung des Instituts für Bayerische Literatur vom Sperrmüll vor dem Institutsgebäude geholt, ihr bei sich daheim Asyl gewährt und sie am Nachmittag vor der heutigen Veranstaltung per Fahrradanhänger ins bosco transportiert. Beinahe hätte der Simpl-Hund diese Reise nicht überlebt: im Treppenhaus machte er sich selbständig und fiel die Stufen hinab. Dank Technikchef Markus Sternagel konnte das rote Monster dann doch gerettet werden, so dass es dem Abend beiwohnen durfte.

Dieses „Aufbruch“-Kapitel „Von Kraglfing nach Wahnmoching“ wurde zu einem Schwabing-Spaziergang der besonderen Art. Die (Wieder-)Begegnung mit den Kreativen aus der Zeit zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg war ein eindrücklicher Beweis dafür, wieviel fortschrittlicher, mutiger und vor allem zukunftsbegeisterter Satiriker, Schriftsteller und Kulturschaffende einst auf die Gesellschaft ihrer Zeit einzuwirken versuchten.

Sabine Zaplin, 16.01.2019


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.