Nach(t)kritik
Die Schönheit der Primzahlen
Veranstaltung: Rufus Beck: Supergute Tage - Eine multimediale Lesung mit Film und MusikWie wahrscheinlich ist es, dass fünf rote Autos unmittelbar hintereinander vorüberfahren? Christopher kann die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, im Kopf berechnen. Ein Tag, sagt Christopher, an dem hintereinander fünf rote Autos vorüberfahren, ist ein superguter Tag. Es gibt nicht viele supergute Tage in Christophers Leben. Das sagt zumindest sein Vater. Weil er weiß, dass im Leben seines 15-jährigen Sohnes schon viel schief gelaufen ist. Denn Christopher ist zwar ein Mathe-Genie, doch er kann das Verhalten der Menschen um ihn herum nicht deuten. Menschen sind schwer zu berechnen. Zum Beispiel Christophers Mutter: als Christopher eines Tages aus der Schule heimkommt, ist sie nicht da. Der Vater erklärt, sie sei im Krankenhaus, und wenig später erklärt er, sie sei gestorben. Doch dann macht Christopher eines Tages eine verwirrende Entdeckung. An einem Tag, an dem viele gelbe Autos hintereinander fahren. Ein mieser Tag ist das. Aber er könnte sich noch wandeln. Christopher muss nur die Augen schließen und nach innen schauen.
Rufus Beck hat die Geschichte von Christopher ins bosco gebracht. „Supergute Tage“, der mehrfach ausgezeichnete Roman von Mark Haddon, ist die Geschichte eines jungen Außenseiters, der autistische Züge aufweist (wobei Haddon Wert darauf legt, kein Buch über Autismus geschrieben zu haben, sondern vielmehr über einen besonderen Jungen, der den gleichen Respekt verdient wie die scheinbar „Normalen“). Beck gibt Christopher eine Stimme, er lässt ihn über seine besondere Form der Sprachgestaltung lebendig werden. Christophers Stimme verschafft sich Raum im Saal und nimmt das Publikum mit in seine Welt. Eine Welt, in der es nicht einfach ist, sich zurechtzufinden, weil Christopher nur zwei Gefühlszustände genau erkennen kann: traurig oder glücklich Seine Lehrerin Siobhan zeigt ihm anhand von Emojis, welche Varianten von traurig und glücklich es noch gibt und was alles in den Ebenen dazwischen existiert und geschieht. Doch diese Sprache erschließt sich Christopher nicht, was Rufus Beck gleich am Beginn des Abends hörbar, nachvollziehbar gestaltet, als er Christophers Stimme Gestalt werden lässt und so alle zu Zeugen und Zeuginnen eines erschreckenden Vorfalls werden: der Hund der Nachbarin wurde mit einer Heugabel erstochen. Wie Christopher den Hund findet, ihn umarmt und sich vornimmt, den Mörder des Tieres zu finden - genau wie ein Spuren verfolgender Detektiv -, das wird an diesem Abend hör- und spürbar und verwandelt sich über das reine Zuhören in eine im wahrsten Sinne des Wortes zu Herzen gehende Geschichte.
Rufus Beck sitzt währenddessen auf einem Barhocker vor einer großen Leinwand, auf der mal die von Christopher gezeichneten Autos zu sehen sind, mal Primzahlen (die liebt Christopher sehr) oder Rechenaufgaben - die Illustrationen aus dem Buch eben. Dazu erklingt eine von Parviz Mir Ali für diese Produktion komponierte Musik, eingespielt auf einem afrikanischen Instrument. Puristinnen wie die Rezensentin können auf solche multimedialen Angebote verzichten, die Geschichte kann sehr gut für sich stehen. Aber es ist verständlich, dass manche etwas brauchen, worauf ihr Auge ruhen kann während eines solchen Abends. Im Zentrum jedoch blieb trotz allem die Geschichte eines Jungen, der aus einer anderen Perspektive auf die Welt schaut. Und das kann diese im Augenblick mehr brauchen denn je.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.