Nach(t)kritik
In die Welt hinaus gehen
Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Da schau her (Teil 2)Hand aufs Herz: wer aus dem Publikum ist zu Fuß ins bosco gekommen an diesem eiskalten Abend, der sich unter der Federführung von Literaturspaziergänger Gerd Holzheimer und dem ebenfalls viel reisenden Schauspieler Ernst Matthias Friedrich dem Gehen widmete, insbesondere dem Zu-Fuß-Gehen? Zugegeben: der anhand von zahlreichen Beispielen aus der Literaturgeschichte hergestellte Zusammenhang zwischen dem Gehen und dem Sehen war für Zu-Fuß-Hergekommene mangels Tageslicht und Wegrandüberraschungen vor Beginn der Veranstaltung gewiss nicht so ersichtlich, und wer zu Fuß hergefunden hatte, tat dies vermutlich eher aus Sorge vor Glatteis oder weil das Auto es schon so schön warm in der Garage hatte.
Ganz anders Johann Gottfried Seume, mit dem Holzheimer und Friedrich den zweiten Abend der literarischen Reihe „Da schau her!“ eröffneten. Der ging nämlich im Jahr 1802 aus Geldmangel und Italiensehnsucht von Grimma bei Leipzig zu Fuß bis nach Syrakus, Sizilien, und zwar, wie er am Ende seines Buchs „Spaziergang nach Syrakus“ betont, immer in denselben Stiefeln, die ihm auch jetzt, nach der Rückkehr, noch zu weiteren Unternehmungen dieser Art dienlich wären. „Das ist nicht so unbedingt das Goetheprogramm“, bemerkt Gerd Holzheimer.
Von Goethes „Italienischer Reise“ wird noch ebenso die Rede sein an diesem Abend wie von Heinrich Heines „Reisebildern“, von Joseph von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ ebenso wie von Robert Walsers „Der Gehülfe“. Das verbindende Element ist der Weg in Richtung jenes Sehnsuchtslandes, in dem neben Zitronen auch die Poesie, die Liebe und die reine Lust am Leben blühen. Dabei geht es immer wieder um den Blick der Dichter - an diesem Abend sind ausschließlich männliche Autoren vertreten - auf das, was am Wegesrand zu finden ist, was sich unterscheidet vom bisher gekannten, was den Blick auf sich zieht und somit einen Perspektivwechsel einfordert: der Reisende, ob zu Fuß oder im bequemen Wagen, muss den Blick immer wieder fokussieren auf die kleinen, oft eher am Boden. also unten zu entdeckenden Dinge. „Weltaneignung durch das Auge“, nennt Holzheimer diesen Prozess.
Dem Publikum leuchtet dies unmittelbar ein. Vermutlich besitzen hier viele eigene Erfahrungen in diesem Sinne, zumindest zeugt eine gewisse Textkenntnis von Wanderliedern davon. Als Matthias Friedrich in seiner Lesung aus dem „Taugenichts“ das darin zu findende Eichendorffsche Wanderlied „Wem Gott will rechte Gunst erweisen“, anstimmt, fällt etwa die Hälfte der Anwesenden in den Gesang mit ein - jedenfalls in der ersten Strophe. Im Folgenden erzählt der als deutscher Wanderdichter geltende Joseph von Eichendorff dann davon, wie sein „Taugenichts“ schon nach wenigen Metern mit der Kutsche mitgenommen wird - und das geschieht im Folgenden dann häufiger.
Dass auch die Reise mit dem Automobil, immerhin in dessen Anfangszeit, auch eine langsame, Weltaneignung durch das Schauen ermöglichende Fortbewegung sein kann, davon erzählt Otto Julius Bierbaum in seiner wohl ersten Autoreiseerzählung der Literaturgeschichte. Und dass es beim Fortgehen immer auch um die Reise an sich und weniger um das Erreichen eines Zieles geht, das zu belegen dient die immer noch bezaubernde Kindergeschichte „Oh wie schön ist Panama“ von Janosch. Immerhin sind der kleine Bär und der kleine Tiger auch zu Fuß unterwegs und entdecken ihr privates Panama sozusagen en passant. „Es ginge alles besser, wenn man mehr ginge“, hat Johann Gottfried Seume gesagt. Und vermutlich die bewährten Stiefel geschnürt.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.