Direkt zum Inhalt

Nach(t)kritik

So, 03.04.2016
20.00 Uhr

Ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Jude

Veranstaltung: Theater Wuppertal: Hiob - von Joseph Roth

Wie soll man leben? Gemäß den Gesetzen einer höheren Macht oder folgend den Pfaden hin zum persönlichen Glück? Wie interpretiert man die Schicksalsschläge, die das Leben einem bereithält? Als gerechte Strafe? Als Hinweis darauf, dass man entweder vom rechten Weg abgekommen ist oder den richtigen Weg noch nicht gefunden hat? Oder einfach nur als Pech?

„Ich bin ein ganz gewöhnlicher, alltäglicher Jude“, sagt Mendel Singer. Gewöhnlich sind die Umstände seines Lebens, alltäglich der Umgang damit. Drei seiner vier Kinder sind gesund, der Jüngste - Menuchim - ist Epileptiker. Man müsse ihn ins Krankenhaus bringen, sagt Mendels Frau Deborah, oder wenigstens zu jenem Rabbi, der Wunder vollbringt. Doch Mendel lehnt ab, er braucht niemanden zwischen sich und Gott. Mendels Sohn Jonas will zu den Soldaten, sein Sohn Schemarjah will Kaufmann werden, seine Tochter Mirjam zieht es zu Männern hin. Jeder hat eine andere Vorstellung vom Leben, und jede dieser Vorstellungen ist grundverschieden von jener Mendels. 

Wie soll man leben? Amerika scheint eine Lösung zu sein. Ein Kind ohne den Zaren und seine Armee, ohne Kosaken und ihre Anziehungskraft auf junge Frauen wie Mirjam. Ein Land mit Perspektiven für Schemarjah, der hier erst zu Sam und dann zu einem erfolgreichen Geschäftsmann wird. Kein Land für ein krankes Kind wie Menuchem. Er wird zurückgelassen, als Mendel mit Frau und Tochter zu Sam auswandert. Zurück bleibt auch Jonas, der lieber Soldat ist und bei den Pferden lebt. Doch tragen die Glücksversprechen der Fremde ein Leben lang? „Haben wir den freiwilligen Entschluss gefasst, nach Amerika zu gehen, oder ist dieses Amerika einfach über uns gekommen?“ fragt Deborah noch vor der Abreise. Amerika kommt dann gewaltig über sie, nimmt ihr im aufziehenden Krieg noch den amerikanischen Sohn, Sam, der nun auch Soldat wird und als Soldat fällt. Am Ende bleibt Mendel allein, bleibt ihm nur noch sein Glaube, und als er diesen ins Feuer wirft, als er seinen Gott zu verbrennen versucht, erkennt er in den Flammen den entscheidenden Hinweis: was in ihm brennen soll, was ihn am Leben hält, ist die Liebe. Und erst jetzt findet er den Weg zu seinem fremdesten, entferntesten Sohn - zu Menuchem, der längst bei ihm ist.

Das Theater Wuppertal ist mit „Hiob“ nach dem Roman von Joseph Roth zu Gast in Gauting. Regisseur Patrick Schlösser hat mit seinem immens starken Ensemble eine stark verdichtete Version (Dramatisierung von Koen Tachelet) auf die Bühne gebracht, die gerade im entschieden Einfachen eine Pointiertheit entfacht, die direkt unter die Haut geht, mitten hinein in die Schaltzentrale des Gewissens. Wie würde man selber handeln? Würde man wie Mendel Singer seinen Überzeugungen treu bleiben oder wie Deborah das Beste für die Kinder wollen? Würde man sein Glück suchen wie Mirjam oder Schemarjah, wie Jonas? Wie weit würde man gehen, so oder so?

Hart aneinandergeschnitten sind die dichten Szenen, wie in Stein gemeißelt die Sätze, mal direkt über die Rampe gesprochen, mal im Dialog entwickelt. Auf der Bühne nichts als die Holzschnittversion eines kahlen Baumes, der erst am Ende und auch nur in der Projektion treibt und grünt. Eine Tür, in der immer wieder mal ein Gesicht auftaucht oder ein ganzer Mensch. Die Treppe hinunter in den Saal, über die Botschaften aus der Fremde hinaufgebracht werden. Todesnachrichten. Briefe. Verzweifelt nach dem Glück suchend, den Gefühlen folgend ist Philippine Pachls Mirjam. Gesetzestreu wie die Vater, nur einem anderen Gesetz, nämlich dem des Handels, schickt Alexander Peiler seinen Schemarjah auf den Weg ins Leben. Naiv und zugleich kraftvoll, klar ist der Jonas von Thomas Braus. Julia Reznik lässt die Deborah, die nur das Gute will, immer wieder zweifeln, bis die Verzweiflung sie am Ende zerstört. Lukas Mundas, der für den erkrankten Uwe Dreysel eingesprungen ist, lässt aus dem Kranken Menuchim den zum Künstler gereiften Menuchim wachsen. Und Miko Greza verwandelt Mendel Singer vom stur den Gesetzen Folgenden zum Handelnden, durch Erkenntnis Gereiften. Einer, der seinen Stolz erst am Boden kriechend verlieren muss, um die Liebe zur Welt und zum Leben gewinnen und empfinden zu können. „Immer weißt du die falschen Sätze auswendig“, wirft Deborah ihrem Mann einmal vor. Am Ende weiß dieser keinen einzigen Satz mehr auswendig. Jetzt spricht er direkt aus dem Herzen. Sätze, die bleiben.

Sabine Zaplin, 03.04.2016


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
Galerie
Bilder der Veranstaltung
So, 03.04.2016 | © Copyright Werner Gruban, Theaterforum Gauting