Nach(t)kritik
Einen Stein ins Rollen bringen
Veranstaltung: Rudi Raab & Julie Freestone: Musikalische Lesung "Der Stolperstein"Auf den ersten Blick ist es eine boy-meets-girl-Geschichte: ein junger Mann, in den Sechzigern aus Deutschland nach Kalifornien ausgewandert, begegnet dort einer jungen Frau, Journalistin und Tochter jüdischer Einwanderer aus Osteuropa. Die erste Frage, die sie ihm stellt, lautet: „Was hat dein Vater denn so während des Krieges gemacht?“ Anderen hatte der junge Mann damals gern flapsig geantwortet: „Das Gleiche wie deiner, nur auf der anderen Seite.“ Aber diesmal geht ihm das nicht über die Lippen. Denn sein Vater war ein hoher Nazi-Funktionär. Und die junge Frau will es genau wissen. Also machen sie sich auf die Reise, nach Deutschland, auf den Spuren der Verwandtschaft des jungen Mannes. Denn da gab es noch einen Onkel, über den niemand sprach und der einfach verschwunden war. Einfach so?
„Der Stolperstein“, heißt das Buch, das Rudi Raab und Julie Freestone im Rahmen der Ausstellung „Hoffnung trotz alledem“ in der bar rosso vorstellen, gemeinsam mit dem Musikerduo Rebecca Rust und Friedrich Edelmann. „Der Stolperstein“ ist die Geschichte von Raab und Freestone, auch wenn sie im Buch Karl Schmidt und Sarah Stern heißen, auch wenn sie das Buch einen Roman nennen. Ein paar Details sind fiktiver gestaltet, aber die Basis ist die sich auf ungewöhnliche Weise kreuzende Lebensgeschichte der beiden. Erzählt wird aus der Perspektive von Sarah, die auf der gemeinsamen Reise in Karls alte Heimat eine Postkarte entdeckt, die dessen Onkel Gerhard aus dem Konzentrationslager Buchenwald an die Eltern geschickt hat. Darin bedankt er sich für das Weihnachtspäckchen und die gute Wurst, die er leider nicht essen kann, da er keine Zähne mehr hat. Eine Tante, von Karl und Sarah mit der Postkarte konfrontiert, erinnert sich doch. „Aber da musst du deinen Vater fragen“, bittet sie Karl. Und so entdecken Karl und Sarah die Geschichte des totgeschwiegenen Onkels, der sich geweigert hatte, den Rassismus und die Indoktrinierung der Nazis mitzumachen.
Es ist ein Wechsel aus freier Erzählung und Lesung aus dem Buch, was Julie Freestone und Rudi Raab tun. Persönliche Geschichten und gestaltete Prosa wechseln einander ab. Dazu sind im Hintergrund auf einer Leinwand Fotos zu sehen - ganz so, als öffne sich hier ein Familienalbum. Die kurzen Werke jüdischer, von den nazis verfolgter Komponisten wie Max Stern, die Rebecca Rust und Friedrich Edelmann auf dem Cello und dem Fagott spielen, greifen wie eine musikalische Antwort in diesen Dialog mit ein. Ein gut aufeinander abgestimmtes Programm: bereits vor drei Jahren, erzählt Edelmann zu Beginn der Veranstaltung, haben die vier, die miteinander befreundet sind, in einer Buchhandlung in San Francisco eben diesen Abend miteinander gestaltet. „Wir sind seitdem oft gefragt worden, wann es den Film geben wird, der unser Buch doch fast schon ist“, sagt Raab und fügt hinzu: „Wenn es den je geben sollte, muss die Filmmusik die von Rebecca und Friedrich sein.“
Seit kurzen erst gibt es „Stumbling Stone“ in deutscher Übersetzung, und so erleben die Gautinger einer der allerersten Lesungen aus dem nun auch hierzulande erhältlichen Buch. „Es hat mich sehr berührt“, bekennt eine Zuschauerin am Ende, „vor allem, weil Sie einen so besonderen, warmherzigen Humor besitzen.“ Und so ist es am Ende doch eine Liebesgeschichte und eine Geschichte darüber, wie weit zurück eine Begegnung zwischen einem Jungen und einem Mädchen führen kann.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.