Nach(t)kritik
Einfach mal normal
Veranstaltung: Noah Cohen: Bis gleich, Isaak! – Jüdische Deutsche an ihren LieblingsplätzenZum Beispiel Ronen Steinke: der Journalist steht im Treppenhaus des Münchner Literaturhauses und zeigt auf die Wand, auf der Namen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu lesen sind. „Er kam aus Berlin an dem Tag“, erzählt Noah Cohen, der Steinke fotografiert hat für seine Ausstellung mit dem Titel „Bis gleich, Isaak! Jüdische Deutsche an ihren Lieblingsplätzen“. Das Literaturhaus ist ein Lieblingsplatz von Ronen Steinke, zusammen mit Noah Cohen ist er dort gewesen, hat zunächst oben vor dem großen Panoramafenster ein Motiv mit Münchner Stadtkulisse ausprobiert und sich dann für die Wand im Treppenhaus entschieden.
Oder die Schriftstellerin Lena Gorelik: sie sitzt auf einem Bahnsteig, eine Reisetasche neben sich. „Wir haben am Bahnhof mehrere Motive ausprobiert“, erzählt Cohen. Entschieden hat er sich dann für den Bahnsteig, denn Bahngleise sind für Jüdinnen und Juden dann doch zu eindeutig konnotiert. „Ihr ging es ums Reisen, ums Fortgehen und Ankommen, ums Unterwegssein“, erzählt er.
Es war nicht einfach, jüdische Deutsche zum Mitmachen zu bewegen. Die Ausstellung entstand vor gut drei Jahren anlässlich des Jubiläumsjahrs „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Viele der damals von Noah Cohen angesprochenen Künstlerinnen und Künstler, Menschen aus den Bereichen Journalismus, Literatur, Sport oder Medizin hatten schlicht Angst, sich als jüdisch zu outen. „Diese Scheu ist ein Zugeständnis an den Rassismus“, sagt Cohen und betont, dass dieses Projekt genau dem widerspreche, „mit Hilfe und in Gesellschaft all der jüdischen Deutschen, die auch so denken und den Mut haben, dazu zu stehen. Es ist eine Botschaft, ein Ringen um Freiheit und Toleranz.“
Von diesem Ringen um Freiheit und Toleranz, aber auch von negativen Erfahrungen erzählen die Statements, die von den Portraitierten ihren Aufnahmen hinzugefügt worden sind. Darin ist vom ganz alltäglichen Antisemitismus die Rede, von Ängsten und Unsicherheiten, aber auch von der Hoffnung auf so etwas wie Normalität. Genau diesen ganz normalen Umgang miteinander, wie er unter Nachbarinnen und Nachbarn eigentlich üblich sein sollte, möchte der Fotograf Cohen mit dieser Ausstellung anstoßen.
Die eindrücklichen Schwarz-Weiß-Portraits sind die Aufforderung dazu. Sieh mich an, sagen sie, nimm mich wahr - ich bin Gegenwartsgesellschaft. Angesichts des zunehmenden Antisemitismus in eben dieser Gegenwartsgesellschaft ist es eine höchst aktuelle Botschaft. „Jüdisch. Deutsch. Ganz normal“, lautet aus genau diesem Grund der Titel des aktuellen Themenschwerpunkts im bosco, in dessen Rahmen diese Ausstellung stattfindet. Am Sonntag, den 06. Oktober wird es eine Führung des Fotografen Noah Cohen durch die Ausstellung geben, weitere Veranstaltungen sind auf der bosco-Homepage zu finden.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.