Nach(t)kritik
Familiengeschichten
Veranstaltung: Gerd Holzheimer: Schwellen des Lebens (Teil 1)Das versprochene Nähkästchen, aus dem der Gautinger Schriftsteller und Literaturkenner Gerd Holzheimer an diesem Abend - und auch den folgenden Abenden der neuen Literaturreihe - plaudert, ist ein Beamer mit dazugehöriger Leinwand. So sind die Protagonistinnen und Protagonisten der „Schwellen des Lebens“ von Anfang an mit dabei und schauen mal ernst, mal heiter ins Publikum. Zum neuen Format, das die optischen Eindrücke neben die bisher vor allem auf das Hörerlebnis zielenden stellt, gehören noch der Nachdruck eines Gemäldes und eine umfangreiche Ahnentafel. Es ist die Ahnentafel der Familie Haushofer, die sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Über welche Schwellen die Familienmitglieder verschiedenster Generationen zu gehen hatten, das ist nicht zuletzt mit den vielen optischen Beispielen in Form von Gemälden, Buch-Erstausgaben und Portraits eindrucksvoll nacherlebbar - vor allem im Zusammenspiel mit Hans-Jürgen Stockerl, der mit seiner farbreichen Stimme die Haushofers und ihre Zeitgenossen wie Zeitgenossinen zu Wort kommen lässt.
Denn das ist auch im neuen Format das Kennzeichnende und wie immer Besondere an dieser Literaturreihe: dass hier zwei Menschen, die sich beide für das Thema des Abends auf emotionaler wie intellektueller Ebene begeistern, über das Gelesene austauschen und im fortwährenden Gespräch darüber sind.
Als zentrale Metapher für die aktuelle Reihe hat Holzheimer die „Schwelle“ gewählt, über die zu gehen ist, die zu überwinden ist, vor der sich aber auch stehenbleiben und im Zweifelsfall von ihr aus zurückgehen lässt, wenn die Umstände es erfordern. Ihrerseits ist die Schwelle Hindernis und Herausforderung zugleich, sie markiert einen Weg, setzt einen Rahmen, wird zur Irritation. Im Fall der Familie Haushofer könnte sie durchaus zu einem markanten Teil des Familienwappens werden, wenn es ein solches gäbe. Denn die Schwellen-Begegnungen dieser Familie sind schon beinahe epochenbezeichnend. So hat beispielsweise der 1811 geborene Maximilian Haushofer, der die Malerei studieren wollte, das Schließen der Malereiklasse an der Münchner Akademie dazu genutzt, sich selber eine Schule zu suchen, die er in der freien Natur fand. Eine Wanderung zur Fraueninsel im Chiemsee, Staffelei und Farben im Gepäck, mündete in den Beginn der Plein-air-Malerei, dem Malen außerhalb geschlossener Akademieräume, und führte zur Gründung einer der ersten Künstlerkolonien - wie sie zur selben Zeit auch beispielsweise in Worpswede entstanden.
Max Haushofers Sohn Karl, ein Mineraloge, machte sich das Bewusstsein für die Qualitäten der Natur gemäß seines Forschungsgebietes zu eigen und rief als Gründungsmitglied gemeinsam mit anderen den Deutschen Alpenverein ins Leben. Der Legende nach - und hier zeigt das auf der Leinwand vergrößerte DAV-Edelweiß eindrucksvoll den Zusammenhang - verlief diese Gründungsversammlung derart eintönig, dass der gelangweilte Karl Haushofer eine der auf dem Wirtshaustisch des Gründungslokals bereitstehende Semmel nahm, diese aushöhlte und aus dem Klumpen ein Edelweiß formte: das Logo des Alpenvereins war geboren.
Und so schreitet die Familiengeschichte der Haushofers voran. Das Künstlerische setzt sich durch, zur Malerei gesellt sich die Literatur, und einer der ersten, die sich dem Schreiben widmen, ist Max Haushofer der Jüngere, seines Zeichens Professor der Volkswirtschaft (unter seinen Studenten sitzt ein gewisser Thomas Mann), der sich an einem prophetischen Science-Fiction-Roman mit dem Titel „Planetenfeuer“ versucht - Hans-Jprgen Stockerl hat sich das Buch umgehend bestellt
cEiner der letzten in der Familiengeschichte ist Albrecht Haushofer, der im letzten Drittel des Abends immer wieder eine Stimme bekommt - schon, als es noch um seine Eltern geht Karl Haushofer der Jüngere (geb. 1869) und dessen Frau Martha. Beiden setzt Albrecht in seinen Sonetten „Der Vater“ und „Die Mutter“ ein literarisches Denkmal. Die Sonette entstanden kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis, während der Nazi-Haft in Moabit und sind als „Moabiter Sonette“ in die Literaturgeschichte eingegangen.
Die Fäden der Haushofer-Familiengeschichte laufen zusammen auf dem Hartschimmelhof bei Andechs. Mit dem Bild dieses Hofes klingt der Abend aus, und auf dem Heimweg hört die Rezensentin zwei Damen aus dem Publikum einander den Weg dorthin beschreiben. Manche Schwelle liegt eben sehr nah.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.