Nach(t)kritik
Flying Robby und die Scheren des Schneiders
Veranstaltung: Sarah Hakenberg: Struwwelpeter reloadedBeim Klassentreffen waren sie dann alle wieder zusammen: die einarmige Mandy; Rolf, der Hamsterkiller; Ritalin-Aline mit dem florierenden Drogenhandel und der brave Heinrich aus der NPD-Kaderschmiede. Das ganze Struwwelpeter-Personal, freilich das aus der bitterbös schwarzhumorigen Fassung von Sarah Hakenberg, die den Kinderzimmerschreck des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart übertragen und einen „Struwwelpeter reloaded“ im bosco präsentiert hat. Schon einmal war sie mit dem Programm in Gauting, damals war es noch neu, doch die vielen Vorstellungen seitdem haben ihm nur gut getan und – falls das überhaupt noch möglich ist – den schwarzen Humor noch dunkler gefärbt.
Denn Sarah Hakenberg lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft seit der Entstehungszeit des Struwwelpeter eher in Richtung „negativ“ einordnet und der gegenwärtigen Kindheit gegenüber der des 19.Jahrhunderts nicht unbedingt den Vorzug geben würde. Eine Zeit, in der die allgemein anerkannte Therapie für einen „Zappelphilipp“ die sofortige und uferlose Bereitstellung von Psychopharmaka ist; eine Zeit, die für Welpen Yoga-Kurse vorsieht, Schülern aber den Schwimmunterricht streicht; eine Zeit, die für ihre Gewaltverherrlichung nicht einmal Ballerspiele am Computer benötigt, da schon einfache Kinderbücher zum Malen von abgeschlagenen Köpfen und blutverschmierten Körpern auffordert, muss sich nicht anmaßen, einen „Struwwelpeter“ mit seinem Daumenlutscher und seinem Suppenkasper für „nicht kindgemäß“ zu erklären. Gewiss ist dieser keine Lektüre, die man mit dem Stempel „empfehlenswert“ versehen möchte – aber einen besseren, empfehlenswerteren Umgang mit dem Schutzraum Kindheit pflegt die zweckrationalisierte Gegenwart nun auch nicht unbedingt.
Auf diese kleinen, doch fiesen Wunden legt Sarah Hakenberg erbarmungslos den Finger. Sie tut dies aber weder moralisierend noch mit dem Nachdruck eines am Finger mitschwingenden Holzhammers. Stattdessen serviert sie ihren „Struwwelpeter reloaded“ mit Engelslächeln und einem im Unschuldsgewand daherkommendem Charme. Umso stärker überrascht das Bitterböse ihrer Texte, die sie überwiegend in Liedern präsentiert. Als „Makaberett“ bezeichnet sie einmal im Laufe des Abends ihren Stil, und tatsächlich hat dieses Kabarett eine makabere Note. Die Geschichte vom Suppenkasper beispielsweise, die im Zeitalter von eigens auf Kinder zugeschnittenen Lebensmittel mit Suchtpotential und einer fatalen Fett-Kalorien-Kohlehydrate-Mischung zum Lied über den „Drallen Kalle“ wird, der nach dem Genuss von allzu vielen Happy-Meals regelmäßig in der Röhrenrutsche stecken bleibt. Oder die Geschichte des armen Knaben, dem wegen seines exzessiven Daumenlutschens ein Schneider eben diese beiden Extremitäten abschneidet: bei Sarah Hakenberg wird daraus ein Lied über die Handy-Mandy, die beim SMS-Schreiben so unglücklich von einem Auto erwischt wird, dass ihr im Krankenhaus der rechte Arm amputiert werden muss. Zu einem „Hoch auf legale Drogen“ schließlich wird die zeitgemäße Fassung des Zappelphilipp, einem Kind, dem mit Ritalin und anschließenden Stimmungsaufhellern die nötige Stromlinienform für die Anforderungen der Leistungsgesellschaft per Rezept verschrieben wird. Schöne neue Kinderzeit. Struwwelpeter reloaded.
Die ganz große Stärke dieser Künstlerin ist ihre Bühnenpräsenz und die Aufmerksamkeit, die sie ihrem Publikum entgegenbringt. Sarah Hakenberg braucht dafür keine Konzentrationsunterstützer, und ihre Lebhaftigkeit ist ein wahrer Glücksfall. Spontan und begeistert reagiert sie auf die Stimmung im Publikum, fragt Meinungen nicht bloß ab, sondern baut sie unmittelbar in ihr Programm ein. Singt im Zweifelsfall, wenn die Zuhörerschaft sich nicht einigen kann, gleich mal zwei Lieder mehr und lässt sich einfach mal zwischendurch nach ihrer Herkunft fragen, wobei sie aus der Antwort gleich eine Spontannummer macht. Der wahre Struwwelpeter ist sie selber, shock-headed Peter, flying Robby und Miss Hookmountain in einer Person. Da wird der im Hals steckenbleibende Lacher zur Bewusstseinserweiterung.
Denn Sarah Hakenberg lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft seit der Entstehungszeit des Struwwelpeter eher in Richtung „negativ“ einordnet und der gegenwärtigen Kindheit gegenüber der des 19.Jahrhunderts nicht unbedingt den Vorzug geben würde. Eine Zeit, in der die allgemein anerkannte Therapie für einen „Zappelphilipp“ die sofortige und uferlose Bereitstellung von Psychopharmaka ist; eine Zeit, die für Welpen Yoga-Kurse vorsieht, Schülern aber den Schwimmunterricht streicht; eine Zeit, die für ihre Gewaltverherrlichung nicht einmal Ballerspiele am Computer benötigt, da schon einfache Kinderbücher zum Malen von abgeschlagenen Köpfen und blutverschmierten Körpern auffordert, muss sich nicht anmaßen, einen „Struwwelpeter“ mit seinem Daumenlutscher und seinem Suppenkasper für „nicht kindgemäß“ zu erklären. Gewiss ist dieser keine Lektüre, die man mit dem Stempel „empfehlenswert“ versehen möchte – aber einen besseren, empfehlenswerteren Umgang mit dem Schutzraum Kindheit pflegt die zweckrationalisierte Gegenwart nun auch nicht unbedingt.
Auf diese kleinen, doch fiesen Wunden legt Sarah Hakenberg erbarmungslos den Finger. Sie tut dies aber weder moralisierend noch mit dem Nachdruck eines am Finger mitschwingenden Holzhammers. Stattdessen serviert sie ihren „Struwwelpeter reloaded“ mit Engelslächeln und einem im Unschuldsgewand daherkommendem Charme. Umso stärker überrascht das Bitterböse ihrer Texte, die sie überwiegend in Liedern präsentiert. Als „Makaberett“ bezeichnet sie einmal im Laufe des Abends ihren Stil, und tatsächlich hat dieses Kabarett eine makabere Note. Die Geschichte vom Suppenkasper beispielsweise, die im Zeitalter von eigens auf Kinder zugeschnittenen Lebensmittel mit Suchtpotential und einer fatalen Fett-Kalorien-Kohlehydrate-Mischung zum Lied über den „Drallen Kalle“ wird, der nach dem Genuss von allzu vielen Happy-Meals regelmäßig in der Röhrenrutsche stecken bleibt. Oder die Geschichte des armen Knaben, dem wegen seines exzessiven Daumenlutschens ein Schneider eben diese beiden Extremitäten abschneidet: bei Sarah Hakenberg wird daraus ein Lied über die Handy-Mandy, die beim SMS-Schreiben so unglücklich von einem Auto erwischt wird, dass ihr im Krankenhaus der rechte Arm amputiert werden muss. Zu einem „Hoch auf legale Drogen“ schließlich wird die zeitgemäße Fassung des Zappelphilipp, einem Kind, dem mit Ritalin und anschließenden Stimmungsaufhellern die nötige Stromlinienform für die Anforderungen der Leistungsgesellschaft per Rezept verschrieben wird. Schöne neue Kinderzeit. Struwwelpeter reloaded.
Die ganz große Stärke dieser Künstlerin ist ihre Bühnenpräsenz und die Aufmerksamkeit, die sie ihrem Publikum entgegenbringt. Sarah Hakenberg braucht dafür keine Konzentrationsunterstützer, und ihre Lebhaftigkeit ist ein wahrer Glücksfall. Spontan und begeistert reagiert sie auf die Stimmung im Publikum, fragt Meinungen nicht bloß ab, sondern baut sie unmittelbar in ihr Programm ein. Singt im Zweifelsfall, wenn die Zuhörerschaft sich nicht einigen kann, gleich mal zwei Lieder mehr und lässt sich einfach mal zwischendurch nach ihrer Herkunft fragen, wobei sie aus der Antwort gleich eine Spontannummer macht. Der wahre Struwwelpeter ist sie selber, shock-headed Peter, flying Robby und Miss Hookmountain in einer Person. Da wird der im Hals steckenbleibende Lacher zur Bewusstseinserweiterung.
Sabine Zaplin, 09.10.2015
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.