Nach(t)kritik
Fündig geworden
Veranstaltung: Enders Room: HikikomoriBereits vor 17 Jahren hatte die „Jazz-Zeitung“ eine Überschrift gefunden, die bis heute Gültigkeit besitzen dürfte: „Johannes Enders und die Sehnsucht nach dem eigenen Sound“. Die stilistische Experimentierfreude war bei dem Weilheimer Saxophonisten schon immer derart produktiv, dass seine Discografie mittlerweile über 30 Titel aufweist. Das seit 2002 bestehende Format „Enders Room“ ist dabei sozusagen das Planschbecken, in dem sich der inzwischen 52-Jährige tummelt – jetzt stellte der einst in München, Graz und New York ausgebildete Musiker sein im Sommer auf CD eingespieltes Projekt „Hikikomori“ im Bosco vor. Der japanische Begriff umschreibt laut Enders „Menschen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen und auf Bildschirme starren“. Man darf bei der kompositorischen Entsprechung des Wortes also entweder eine geschlossene Form mit Variationen vermuten oder aber ein musikalisches Spiegeln der (un)freiwilligen Abschottung eines Menschen von der äußeren Welt – als Konzept wäre derlei modernes Eremitentum ein spannender Ansatz, als einzelner Musiktitel wie bei Enders Room“ ist „Hikikomori“ radikal, in der Wirkung überwältigend und geradezu hypnotisch.
Johannes Enders, dem die Kritik seit "Notwist"-Zeiten einen „holzigen, weichen“ Saxophon-Ton attestiert, versammelt in seinem „Room“ bzw. Labor aktuell den E-Bassisten Wolfgang Zwiauer, den Trompeter Bastian Stein, Gregor Hilbe an den Drums und elektronischen Effekten sowie den aus Norwegen kommenden Vibraphon-Virtuosen Karl Ivar Refseth. Der eingangs erwähnten Experimentierlust sind mit einer solchen Besetzung schon mal keine Grenzen gesetzt: Der im Herzen „wienerisch“ gebliebene Kölner Bastian Stein bekommt genügend „Auslauf“ für ausgedehnte Solo-Passagen im Stile eines Miles Davis, Karl Ivar Refseth darf mannschaftsdienliche Vibraphon-Akzente setzen, die man diesem normalerweise „solistischen“ Instrument eher nicht zutrauen würde, und die Drum & Base-Abteilung mit Zwiauer und Hilbe bildet den gut geölten „Maschinenraum“ der ausladenden Stücke. Enders fühlte sich beim aufmerksamen Bosco-Publikum offenkundig sehr wohl und sagte in seiner trockenen Art ziemlich bald den Satz: „Wir fühlen uns schon jetzt zu Ihnen hingezogen.“ Ansonsten waren die Ansagen knapp gehalten – die Musik sollte für sich selber sprechen. Titel wie „Notre Dame“ oder „Old Promise“ luden zum Assozieren ein, bewahrten sich aber ihr privates Geheimnis. Man kann es gleichwohl spüren, wenn „Enders Room“ bei seiner komplexen und bis zu 25 Minuten langen Suche nach dem Momentum (oder gar dem „Stein der Weisen“) fündig wird: Dann greifen sämtliche Elemente ineinander, finden Saxophon und Trompete ihre Parallelität. Alles kreist dann um einen thematischen Kern, zu dem die Musiker auch aus größeren Umlaufbahnen immer wieder zuverlässig zurückkehren. Die von Gregor Hilbe zum variationsreichen (Hand- und Sticks-)Drumming ergänzend bediente Elektronik mit laptopgenerierten Beatbox-Effekten und Loops erzeugt zusammen mit dem E-Bass jene emotionale Grundierung, die Enders, Stein und Refseth für ihre kühnen Expeditionen brauchen – im Hör-Ergebnis darf vermutet werden, dass Enders auf der Sehnsuchtssuche nach dem „eigenen Sound“ fündig geworden ist. Und immer dann, wenn die Zuhörer ahnungsvoll ein solches nahezu erlösendes Gelingen erleben, gibt es dafür vollkommen zu Recht enthusiastischen Beifall. Wenn man Johannes Enders fragt, darf auch das Bosco-Publikum gerne das heimische Zimmer verlassen und wiederkommen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.