Nach(t)kritik
Gegen das Vergessen
Veranstaltung: Schubert Theater Wien: „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“„Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen?“, erklärt der alte Mann mit Nachdruck, „ich bin seit längerem schwer dement. Ich kann mich wirklich nicht erinnern.“ Diese Demenz, die den alten Mann befallen hat, steht stellvertretend für jene fast kollektive Erinnerungslücke, von der sehr viele Menschen betroffen waren, die in den Jahren 1933 bis 1945 in leitenden und vor allem Entscheider-Funktionen in Deutschlan dund Österreich tätig waren. Sie alle verband die Tatsache, sich nicht mehr erinnern zu können an Dinge, die ihnen vorgewurfen wurden.
Besagter Herr beispielsweise war Stationsleiter der sogenannten „Reichsausschuss-Abteilung“ an der Wiener Euthanasie-Klinik Am Spiegelgrund - und schon das Wort „Ausschuss“ bietet genügend Anlass zum Erinnern. Denn Heinrich Gross, so der Name des Stationsleiters, entschied darüber, welche der in der Klinik internierten Kinder zum Ausschuss gehörten - zu jenen, deren Weiterleben für die nationalsozialistische Gesellschaft von keinem Wert war, die also nur Kosten verursachen würden und die darum zu vernichten waren.
Eines der Kinder, die Heinrich Gross zu jener Zeit aussortierte, war der damals Vierzehnjährige Friedrich Zawrel. „Erbbiologisch und sozial minderwertig“, lautete der Stempel, der ihm aufgedrückt wurde: Friedrich stammte aus ärmlichen Verhältnissen, wuchs in Pflegefamilien und verschiedenen Heimen auf und fiel auf, weil er aufgrund von Demütigungen durch weniger vernachlässigte Kinder die Schule schwänzte. Später geriet er in Versuchung, ein herumliegendes Wehrmachts-Proviantpäckchen zu stehlen, um seinen permanenten Hunger zu stillen. Als Sohn eines vorbestraften Alkoholikers wurde ihm von Ärzten wie Heinrich Gross eine negative Perspektive für seinen weiteren Lebensweg bescheinigt - er zählte zum Ausschuss.
Den Stempel behielt Friedrich Zawrel auch nach dem Krieg, so dass es ihm schwerfiel, Fuß zu fassen. Ein weiteres Eigentumsdelikt führte zur Verurteilung und zu einem Prozess im Jahr 1975, wo ihm als Gerichtspsychiater ausgerechnet Heinrich Gross gegenübersitzt, der mittlerweile ein sehr begehrter Gerichtspsychiater und zudem anerkannter Hirnforscher ist. Was niemand weiß: die Forschungsergebnisse von Heinrich Gross, für die dieser prominent ausgezeichnet wurde, basieren auf seiner Tätigkeit während des Dritten Reiches. Damals hat er jenen Kindern, die er zum „Ausschuss“ erklärt und durch medizinische Experimente umgebracht hat, die Gehirne entnommen, um an diesen zu forschen. Erst die Begegnung mit Friedrich Zawrel im Jahr 1975 deckt die Machenschaften von Heinrich Gross auf. Und spätestens von diesem Moment an beginnt bei diesem das große Vergessen.
„F.Zawrel - ebrbiologisch und sozial minderwertig“, heißt die Puppentheaterproduktion, mit der Nikolaus Habjan die Lebens- und Leidensgeschichte des Friedrich Zawrel vor dem Vergessen rettet. In zahlreichen Gesprächen mit Zawrel und in enger Zusammenarbeit mit diesem ist ein bedrückend dichtes Kammerspiel entstanden, in dem der Zeitzeuge Friedrich Zawrel in hohem Alter in Gestalt einer lebensgroßen Klappmaulpuppe dem Puppenspieler Habjan seine Geschichte erzählt. In Rückblenden lässt Habjan das Kind Friedrich - ebenfalls in Gestalt einer Puppe - die Zeit in der Klinik Am Spiegelgrund noch einmal erleben. Es geht einem beim Zuschauen unter die Haut, das Kind, das die unmenschlichsten Experimente wieder und wieder erleiden muss, fragen zu hören: „Warum macht ihr das mit mir?“
Dieser Frage geht Nikolaus Habjan mit sparsamen Mitteln und darum umso eindrucksvolleren Theatermomenten nach. Am Ende bleibt Wut und die Erkenntnis, dass gegen Menschenverachtung nur eines hilft: bedingungslose Menschenliebe.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.