Nach(t)kritik
Griff ins Klaviergedärm
Veranstaltung: Michael Wollny Trio: Jazz-Pianist mit Prädikat WeltklasseAls ECHO-Preisträger Michael Wollny vor vier Jahren gemeinsam mit dem Vokalisten Theo Bleckmann im bosco auftrat, schrieb der Kritiker von einem „Glücksfall“. Auch diesmal war es offenbar nur den hervorragenden Kontakten des Hauses zu verdanken, dass das längst überall gefeierte „Michael Wollny Trio“ sich die Zeit für ein Konzert in Gauting nahm – und es sollte abermals ein denkwürdiges Ereignis werden: Wollny, mit gerade mal 26 Jahren 2014 als Professor an die Hochschule für Musik in Leipzig berufen, hat längst weitere Auszeichnungen erhalten, so 2017 den Bayerischen Kulturpreis. Dem gebürtigen Schweinfurter wird unter Jazzpianisten Weltklasse attestiert, daher verwunderte der Andrang eines erwartungsvollen Publikums beim bosco-Abend keineswegs, und es wurde nicht enttäuscht: Wollny und seine Mitstreiter Christian Weber (Kontrabass) und Eric Schaefer (Drums) dürften die great expectations sogar noch übertroffen haben, die auch die jüngste CD "Nachtfahrten" (2015) genährt hatte.
Alleine Wollnys Technik am Pianoforte ist eine Augenweide: Insbesondere die Finger der rechten Hand müssen immer wieder breiteste Spreizungen verkraften, um jene mehrtönigen Zusammenklänge zu erzeugen, die noch dazu in teils irrwitzigem Tempo erzeugt werden – das kann im Extremfall über Minuten so gehen, kraftraubend, ekstatisch und doch in höchstem Maße diszipliniert. Wollny arbeitet sich regelrecht in die Tasten hinein, stößt mal von oben wie ein Habicht zu mit hartem Anschlag, lässt dann wieder „alle Zehne“ von der Leine, um eine Art perlendes Arpeggio zu kreieren, ganz als flösse das Klavier über in diesem Moment. Sein Instrument wirkt bei Wollny wie ein Beet, in das er seine Ideen hineinpflanzt. Das kann auch mal atonal geschehen, in einer geradezu perkussiven Passage, in der Wollny dem Klavier quasi ins Gedärm greift, Christian Webers geschmeidiger Kontrabass mit den nun abgeklemmt angeschlagenen Klaviersaiten in Dialog tritt und Eric Schaefer als akurates „Schlagwerk“ der Dritte im Bunde ist. Man kann die Metapher vom „Beet“ aber durchaus noch weiter führen: Das Trio verwendet als Dünger für seine bis zu 20 Minuten langen Blöcke mit ineinander übergehenden Stücken und Arrangements nämlich die erstaunlichsten Ingredienzen: Das Oeuvre ludus tonalis des Neoklassizisten Paul Hindemith etwa steht nicht zufällig für praktische pianistische Probleme, die in seinen Kompositionen gerne mal bis an die physiognomischen Grenzen ausgereizt werden. Michael Wollny arbeitet sich auch an den musiktheoretischen, kompositorischen Ideen der „Ungewohnten Musik“ Hindemiths ab wie ein junger Gipfelstürmer.
Als weiteren „Humus“ verwendet das Trio unter anderem Material von Scott Walker („Walker Brothers“), Eric Schaefers japanisch inspirierte Eigenkomposition „Kyoto Mon Amour“ oder auch Claude Débussys „Nuit Blanche“ - zumeist stehen sogenannte Erneuerer der Musik für diese Stücke Pate, ihrerseits neu arrangiert oder dramatisch frisiert. Wer rätseln mag, der kann freilich immer mal auch mikroskopische Zitate der jüngeren Musikgeschichte vermuten und sie womöglich als Harmoniefolge aus „Moon River“ dechiffrieren oder als "Koyannisqatsi"-Derivat. Das akustische Gesamterlebnis ist jedenfalls von beeindruckender Wucht und voller Überraschungen: Glaubt man in alter Hörgewohnheit, eine Komposition komme zu ihrem Ende und habe ihren Bogen vollführt, erhebt sie sich auf einmal wie Phönix aus der Asche und zu völlig verwandelter Gestalt. Umgekehrt findet ein eben noch tobender Duktus – bei Michael Wollny buchstäblich im Handumdrehen - zu friedvoller und dann doch wieder trügerischer Ruhe: Nein, keine harmonischen Gefälligkeiten. Ein solch reiches Bukett an entfesselter Kreativität sucht seinesgleichen. Das Publikum lauschte gebannt, die hohe Konzentration der Akteure übertrug sich, es war wie ein Sog, und man hatte das Gefühl, einem spannungsgeladenen Ereignis beizuwohnen. Als Zugabe nach fast zwei Stunden ohne Pause noch ein zartes, nach innen gekehrtes Piano-Juwel. Ja, es war wohl Weltklasse, zu Gast im bosco.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.