Nach(t)kritik
Jenseits von Zeit und Raum
Veranstaltung: Martin Waldbauer: Spuren der ZeitEs sind die Augen. Sie fordern ein Stehenbleiben, Innehalten geradezu ein. Zwingen dazu, einzutauchen in die Geschichten, die sie zu versprechen scheinen. Zeugen von den „Spuren der Zeit“.
„Es sind Bilder einer Welt, die so, auf diese Weise, bald nicht mehr da sein wird“, sagt der Fotograf Martin Waldbauer im Gespräch mit Gerd Holzheimer bei der Eröffnung der Foto-Ausstellung mit dem Titel „Spuren der Zeit“ am Dienstagabend in der Bar Rosso. Überwiegend Portraits von fast ausschließlich alten Menschen versammelt diese Ausstellung. Gesichter, in die sich die Spuren eines harten, oft arbeits-, fast immer entbehrungsreichen Lebens eingegraben haben. Und doch zeugen die auffällig fest blickenden Augen von Selbst-Bewusstsein im besten Sinn des Wortes - hier wissen Menschen, aus welcher Perspektive heraus sie auf die Welt sehen, in den meisten Fällen zumindest.
Martin Waldbauer, so erfährt das Vernissage-Publikum aus dem Gespräch zwischen dem Fotografen Waldbauer und dem Erzähler Holzheimer, ist in einem kleinen Dorf zwischen Bayerischem und Böhmerwald aufgewachsen, die Eltern hatten einen Gasthof und betrieben Landwirtschaft. Und Menschen wie die von ihm Portraitierten sind ihm von klein auf vertraut. „Diese Portraits erzählen mindestens so viel über mich wie über die Portraitierten“, bekennt Waldbauer. Sie erzählen davon, dass hier jemand einen Anker auszuwerfen versucht gegen die unerbittlich sich wandelnden Gezeiten des Lebens. Diese Augen, in denen das Licht sich sammelt und in denen das Auge des Fotografen sich spiegelt, sie werden zu Ankern, an denen der Blick der Betrachtenden sich festhält.
Seine Motive begegnen Waldbauer unterwegs. Immer wieder packt er seine Kamera und ein Zelt ins Auto und fährt los, Richtung Tschechen. Unterwegs hält er an verlassenen Ortschaften, setzt sich in einsam gelegene Wirtshäuser und versucht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Das ist jenseits der bayrisch-tschechischen Grenze nicht immer einfach. Und wenn ihm unterwegs Menschen auffallen, kann es noch schwieriger werden. Da ist das Foto eines Mannes mit zerzaustem, langem grauen Bart und einer auffällig schiefen Nase. Von ihm hat Waldbauer, aus dem Auto heraus, nur den Rücken gesehen - den Rücken eines Landstreichers auf dem Weg nach Budweis. Er fuhr an ihm vorüber, blickte in den Rückspiegel und wusste: den wollte er portraitieren. Er hielt an, sprach den Mann an , doch der verstand ihn nicht. Einzig seine zerstörte Nase erzählte von all dem, was ihm auf der Straße zugestoßen war. Waldnbauer machte vier Aufnahmen von ihm. Dann lud er ihn ein, mitzufahren, nahm ihn mit bis nach Budweis.
Martin Waldbauer arbeitet analog, und so weiß er erst nach der Arbeit in der Dunkelkammer, ob ihm gelungen ist, was ihm während des Fotografierens vorschwebte. „Es ist eine Begegnung ohne Worte“, erzählt er, „ein kurzer Moment, der festgehalten wird.“ Der Landstreicher weiß nichts davon, dass sein Bild nun in einer Ausstellung in Gauting hängt. Ebenso wenig, wie es wohl der Weißhaarige mit den besonders stechenden Augen wissen wird. Zwischen den Augenbrauen steht ihm eine auffällig scharfe, tiefe Falte. Ein Ausrufezeichen, das zum Hinschauen zwingt. „Der hat eigentlich eher ein weiches Gesicht“, berichtet Waldbauer. Er habe ihm während des Fotografierens die Anweisung gegeben, bitte mal etwas finster zu schauen - da offenbarte sich auf einmal die Falte. Aber sie. muss schon da gewesen sein, von der Zeit hineingegraben in das Gesicht des Bauern.
Eine Hundertstel Sekunde wird da einfangen, gedruckt auf jahrzehntealtem Barytpapier mit Hilfe der Lithprint-Technik. So treffen Vergänglichkeit und Ewigkeit aufeinander. Genau davon erzählen die Augen.
Die Ausstellung „Spuren der Zeit“ mit Portraits und Fotografien von Martin Waldnbauer ist bis Freitag, 17-02.2022 zu den Öffnungszeiten des bosco zu sehen. Ein Begleitprogramm mit einer Führung (am 05.02.), einem Literaturabend (am 18.01.) und einem Film (am 31.01.) ergänzen sie. Details dazu sind auf der Homepage und im Programm zu finden.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.