Nach(t)kritik
Keine Wahl gelassen
Veranstaltung: Pudding Théâtre: "Géopolis"Die Komödianten sind in der Stadt, die Gauklerinnen kommen. Ein vollbeladener LKW biegt um die Ecke, seltsame Sätze fliegen durch die Luft, Musik ertönt. Gläser werden gereicht, man stößt an. „Das erinnert mich an Oxmée“, sagt jemand und schaut verträumt ins Glas. Und dann beginnt das Spiel der Erinnerung an Oxmée, dieses fiktive Land, das überall liegen könnte.
„Hat jemand uns eine Wahl gelassen?“ wird am Ende die Ärztin fragen, die da schon lange für eine NGO kostenlose Medikamente im Flüchtlingslager verteilt. Nein, niemand hat den Bewohnerinnen und Bewohnern von Oxmée eine Wahl gelassen: das Land, das ebenso über touristische Attraktionen und eine soziale Infrastruktur verfügt wie über kostbare Bodenschätze, gerät zwischen die Mühlen geopolitischer Begehrlichkeiten. Zunächst reagiert das Militär, dann die Presse, mit dieser aufmerksame Zeitgenossinen. Als schließlich willkürlich Grenzen durch Oxmée gezogen, Familien auseinandergerissen, Soldaten an die Front gezwungen werden, explodiert die Lage.
„Géopolis“, heißt die Produktion der französischen Straßentheater-Compagnie Pudding Theatre. Entstanden vor gut sieben Jahren, ist das Stück aktueller denn je. Für Gauting haben die Schauspielerinnen um Schauspieler um Christophe Chatelain und Sylvie de Faivre „Géopolis“ eigens aus dem Repertoire wieder aufgenommen, nachdem sie vor zwei Jahren mit ihrer damals aktuellen Produktion „Soupir.s“ in den Straßen an der Würm einen gigantischen Erfolg feiern konnten.
Auch „Géopolis“ ist ein Straßentheater im längst legendären „Pudding“-Stil (die Compagnie feiert heuer ihr 25-jähriges Bestehen): das Publikum wird unmittelbar mit einbezogen - hier in Form von Touristen-Visa, die jeder, jedem zu Beginn ausgehändigt werden und einen bestimmten Zugang über die Grenzen von Oxmée ermöglichen. Am eigenen Leib erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer im Lauf des Abends, was Migrationsbewegungen tatsächlich bedeuten und wie sie sich, kreuz und quer durchs Gelände, vollziehen. Zunächst begegnet man in kleinen Spielszenen der Bevölkerung von Oxmée: der Lehrerin, dem Cafébesitzer, der Ärztin, dem Soldaten. Durch eingespielte Nachrichten wird das Publikum dann zu Zeuginnen und Zeugen der sich anbahnenden geopolitischen Veränderungen im Land, bis schließlich alle zwischen die Fronten geraten. Am Ende ist das Land zerstört, sind Unzählige auf der Flucht, und es bleibt die Frage: „Hat uns jemand eine Wahl gelassen?“
Vor „Géopolis“ gab es einen Prolog, in dem verschiedene Migrantinnen und Migranten, die gemeinsam mit Ana Stefanidis und mit dem Leitungsteam des Pudding Theatre in einer guten Woche ihre persönlichen Erfahrungen zu poetisch-eindrucksvollen Szenen verdichtet haben. Der Titel lautete „Open Windows“, und tatsächlich öffneten sich an der roten bosco-Fassade die Fenster für diese Performance.
Wieder, wie vor zwei Jahren, wurde das Pudding Theatre in Gauting begeistert aufgenommen und diesmal privat in Familien untergebracht. So allmählich entsteht hier wirklich eine grenzüberschreitende Theaterfreundschaft, die hoffentlich noch lange andauern wird. In Gauting freut man sich schon auf das nächste Gastspiel.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.