Nach(t)kritik
Kindersommergerüche
Veranstaltung: Anna Veit: Wenn ich mal groß bin - aufwachsen. irgendwo in Niederbayern.„An einem frühen Morgen im Sommer, in irgendeinem Kinderzimmer in einem alten Hof…“ - so beginnt Anna Veits Erzählung vom Aufwachsen irgendwo in Niederbayern. Das kleine Mädchen, von dem sie aus der Ich-Perspektive erzählt, heißt Anna wie sie, und es ist auch das Kind in ihr, die kleine Anna, die irgendwo in Niederbayern aufgewachsen ist. Aber es könnte auch eine andere sein, die sich da erinnert an Kindheitssommer, Kindheitsmomente, ans Aufwachsen in jener fernen Gegend Kindheit, die wir alle tief in uns tragen.
Dieses Kind, das hier vom endlosen Sommertag erzählt, der früh mit dem Geräusch der hinausfahrenden Bulldogs beginnt, wächst mit vielen Geschwistern und anderen Kindern in einem kleinen Dorf auf, eingebunden in die Familie, eingebunden in die bäuerlichen Abläufe. Die Großeltern sind viel präsenter als die Eltern und älteren Geschwister. Es ist die Oma, die sie an einem dieser endlosen Sommertage gleich nach dem Frühstück mitnimmt hinaus aufs Feld, wo das frisch geschnittene Getreide eingeholt, zusammengerecht und vor den immer drohenden Gewittern rechtzeitig ins Trockene gebracht werden muss. Es ist der Großvater, der auf dem Bulldog sitzt und zu dem sie hinaufgehoben wird, auf jenen Platz, der - so scheint es dem kleinen Mädchen - wohl eigens für Kinder dort eingerichtet wurde, damit sie gut aufgehoben sind und während der Fahrt hinaus aus Feld einschlafen dürfen. Derselbe Opa, den sie am Sonntag in der Dorfkirche wiedersieht und der später aus dem Dorfkrug vom Frühschoppen abgeholt werden muss. Und wenn alles gut geht, darf das kleine Mädchen sich dort ein Limo bestellen. Die Oma dagegen geht draußen auf dem Feld neben dem Kind und hat, wenn beide genug gearbeitet haben, in der Schürzentasche immer ein Stück Brot, das sie dort aufbewahrt „für alle Fälle“ und das oft schon sehr alt ist. Neben dem Brot bewahrt die Oma in einem Büchlein ihre Gedanken auf. Einer lautet: „Es ist Sommer, und gleich geh ich zum Recheln und freu mich so, weil alles so gut riecht.“ Da nimmt das kleine Mädchen sich vor, auch einmal so ein Büchlein zu führen, wenn sie einmal groß ist. Dann will sie auch, genau wie der Opa, ein großes Stofftaschentuch in der Tasche haben und Schnupftabak nehmen und in das Tuch hineinschneuzen.
Diese Geschichten, die so hinreissend und wahrhaftig aus der Kinderperspektive erzählt sind, haben etwas von einem niederbayerischen Bullerbü - ähnlich traumgleich unbeschwert und doch so genau im Einfangen der Details einer untergegangenen Welt. Das sinnliche Vehikel dorthin, in diese Welt, bietet Luis Maria Hölz, der auf der Gitarre und der Mandoline den Klang entstehen lässt, der beim Zuhören und Träumen die Bilder ausmalt, die Anna Veit erzählend beschwört. Drei Chansons werfen im ersten Teil aus einer anderen Perspektive einen Blick auf das Phänomen Kindheit und das mit diesem verbundene Gefühl- außerdem geben sie einen kleine Eindruck vom Repertoire der Künstlerin. Das Französische, Flämische und Englische der Chansontexte öffnet den Blick auf all die anderen Kindheiten, die irgendwo auf dieser Welt stattfinden oder stattfanden, zugleich aber sind sie im Zusammenhang mit den wunderbar in sich geschlossenen niederbayerischen Erinnerungen ein kleiner, irritierender Fremdkörper. Dennoch ist das Zusammenwirken aus Musik und Erzählung ein wunderbares Erlebnis, das sich leider allzu viele haben entgehen lassen.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.