Nach(t)kritik
Lasst sie spielen
Veranstaltung: Emile Parisien Quartet: LET THEM COOK! 20 Years Anniversary TourEin gellender, schriller Ton macht die Runde. „Uh“, tönt es da aus den Reihen – ja, was das Émile Parisien Quartet spielt, hat mit angenehmem Bar-Besuch-Begleitungs-Jazz nichts zu tun. Das ist ist hochenergetische, originelle Musik, die sich in immer enger werdenden Spiralen um sich selbst zu drehen scheint, die Zuhörenden damit in einen rasanten Sog entführt, bis alles in einem unvorhergesehenen Moment abrupt anhält. Diese Musik kann Schleudertraumata auslösen, aber vor allem mitreißen, inspirieren, beglücken und das seit nunmehr zwanzig Jahren.
„Wir sind richtig froh, das heute hier feiern zu können“, sagt der Band-Leader. „Und das ist alles.“ So lakonisch die Moderation, so frei der Jazz. In melismatischen Linien entfaltet sich eine scheinbar unendliche Melodie aus Parisiens Sopran-Saxophon, weich und mit klarem Klangprofil. Alle anderen kommentieren individuell, bringen sich mal mehr, mal weniger ein, zwischendurch streift Pianist Julien Touéry das Jackett ab. Denn hier wird kein fertiges Konzept aufgeführt, sondern das Entstehen eines Stücks sichtbar gemacht. Und darum geht es vielleicht vordergründig an diesem intensiven Abend. Zu zeigen, wie aus dem Moment heraus Ideen geboren werden und sofort reifen können.
An Ideen mangelt es nicht. Im Stück mit dem Titel „Nano Fromage“ etwa – „Irgendwas mit Käse“, übersetzt der Saxophonist – entwickelt sich über einem pulsierenden Bass-Ostinato (Ivan Gélugne) eine immer schnellere, immer lautere Ensemble-Partie, angetrieben von vier Motoren. Das Quartett vereint Elemente des Free Jazz, aber auch der Weltmusik und der atonalen Avantgarden in einem temporeichen, präzise choreographierten Strudel. Dass die Energie dieses veritablen Jazz-Kraftwerks die Musiker selbst in Schwingung bringt, zeigt nicht nur Émile Parisiens bisweilen schwungvoll nach vorne geworfenes Bein.
Immer in Bewegung und immer auf der Suche nach neuen Klangmischungen, integriert das Quartett auch elektrische Elemente, so in „Tiktik“, ebenfalls vom Jubiläums-Album „Let Them Cook“. Elektrische Metronom-Sounds (koordiniert vom ingeniösen Schlagzeuger Julien Loutelier) werden zur Basis für wilde Improvisationen, die sich in intuitiver Logik in kristalline Klavier-Akkordfolgen verwandeln und in digital multiplizierten Saxophon-Tönen auflösen. Das Quartett bricht so mit allen Erwartungen, ohne die Regeln musikalischer Folgerichtigkeit aufzugeben. Wer sich auf die Musik einlässt, sich ihren Skurrilitäten anvertraut, wird belohnt. Zum Beispiel mit einem Ausflug in einen horrorfilmartigen Club, denn „Ve 1999“ kombiniert wummernde Disco-Anklänge mit glitzernden Filmmusikelementen.
Das Publikum reagiert begeistert nach einem letzten, atemraubend rasanten, hochvirtuosen „Coconut Race“, dem sich als Zugabe noch „Chocolat-citron“ anschließt. Ein letztes Klang-Experiment und der letzte Beweis, dass das Quartett noch für zwanzig mal zwanzig Jahre Ideen hat.
Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.