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Nach(t)kritik

Mi, 06.01.2016
17.00 Uhr

Licht- und Schattenseiten der globalisierten Welt

Veranstaltung: Rainer Viertlböck: Fotografien aus München und Huelva
Erst kommt das Meer. Dann kommen die riesigen Fabriken der chemischen Industrie. Direkt dahinter beginnt das größte Erdbeeranbaugebiet Europas. Und dann kommen die sogenannten Chabolas, die illegal errichteten Hüttensiedlungen der meist ebenfalls illegalen schwarzen Immigranten. Das alles ist eigentlich sehr praktisch, denn in den Chemiefabriken werden die Dinge hergestellt, die man nebenan zur Obsterzeugung braucht. Düngemittel und Pestizide, Plastikplanen und Kartonagen. Und die Menschen, die in den Chabolas leben, arbeiten für wenig Geld auf den Plantagen. Sie bauen sich ihre Hütten aus Abfallmaterialien und holen ihr Trinkwasser in alten Düngerkanistern. Das ist Huelva in Andalusien. Kaum ein Tourist wird es so erleben, wie es der preisgekrönte Architekturfotograf Rainer Viertlböck in seiner aktuellen Ausstellung zeigt. 

Bereits 2014 waren seine hochästhetischen und zugleich erschreckenden Bilder von den Chabolas bei Huelva im bosco zu sehen, jetzt hat er sozusagen noch einmal nachgelegt. Damals näherte sich Viertlböck der „Low-End-Architektur“ mit demselben Respekt – und übrigens auch mit demselben  technischen Aufwand – wie der „High-End-Architektur“, die er normalerweise fotografiert. In den sorgfältig ausgeleuchteten „Interieurs“ waren keine Menschen zu sehen, sondern die „architektonischen“ Besonderheiten ihrer armseligen Behausungen, verknotete Schnüre, die Stützkonstruktionen zusammenhalten, Pappkartons, die Wände dämmen, die improvisierte Einrichtung des Küchenzelts. „Die Bewohner der Hütten haben diesen Respekt verdient“, sagte er damals. Jetzt aber zeigt Viertlböck, manchmal aus der Drohnenperspektive und manchmal nur mit etwas mehr Abstand das ganze Ausmaß der menschengemachten Katastrophe: eine öde und zerstörte Landschaft, giftige Chemiewolken, verseuchte Flüsse, veraltete Industrienanlagen, Bauruinen und Straßen, die ins Nichts führen. Und doch liegt hinter all dem ein trügerisch blaues Meer, und doch geht hinter den Schloten eine trügerisch glühende Sonne auf – und doch essen wir alle trügerisch rote Erdbeeren aus Spanien.

Die Erdbeeren sind es, die den einen Teil dieser Ausstellung mit dem anderen verbinden: „Ich widme meine Arbeit zu gleichen Teilen den Licht- und Schattenseiten unserer Welt“, schreibt Viertlböck im Text zur Ausstellung. Etwa zeitgleich mit den Arbeiten aus Spanien fotografierte er seine Heimatstadt München, die er nach einigen Jahren im Ausland auf einmal mit ganz anderen Augen sah. Im bosco ist jetzt auch eine kleine Auswahl der München-Motive zu sehen, die im Herbst in einem opulenten Bildband bei Schirmer/Mosel erschienen sind.

Ein „beschauliches Eiland“ sei München für ihn, sagte Rainer Viertlböck bei der Ausstellungseröffnung. Die Bilder, die er von München machte, sind alles andere als beschaulich: Es sind spektakuläre Aufnahmen, die in ihrer cleanen und ungemein tiefenscharfen Ästhetik beinahe an Gursky-Montagen denken lassen, noch mehr aber durch ihre höchst ungewöhnlichen Blickwinkel überraschen. Viertlböck montierte seine Kamera auf eine Hebebühne oder auf eine Drohne, er überflog die Stadt im Hubschrauber und gelangte so an Aussichtspunkte, die eigentlich unerreichbar sind. Er war Kopf an Kopf mit dem Friedensengel und ging der Quadriga auf dem Siegestor entgegen, er umschwirrte die Türme des Müller’schen Volksbads und schaute von oben ins Silvesterfeuerwerk. 

Katja Sebald, 06.01.2016


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.