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Nach(t)kritik

Di, 20.09.2022
19.00 Uhr

Memento Mori

Veranstaltung: Erwin Geiss: Extinct - Der letzte Blick

Ein paar Zahlen zum Thema vorweg:

Das größten Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit vor 65 Millionen Jahren bedroht gegenwärtig ein Viertel der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als 30 Prozent der Haie und Rochen sowie 40 Prozent der Amphibienarten.

Pro Jahr verschwinden knapp ein Prozent der Insekten weltweit – Tendenz steigend.

Zwischen 1970 und 2010 gingen Fischpopulationen weltweit um 50 Prozent zurück.

Zahlen, die Angst machen. Aber anscheinend nicht Angst genug, denn noch immer werden, nur ein Beispiel, allein in Bayern täglich 30 Hektar Fläche versiegelt, das entspricht 18 Fussballfeldern nach FIFA-Standard.

Warum geschieht so wenig, fragt sich manch eine*r fassungslos, warum halten wir das Rad nicht an? Vielleicht weil Zahlen abstrakt sind.

Erwin Geiss nun gibt diesen Zahlen mit seinen hervorragenden Fotos ausgestorbener Arten ein Gesicht. Nein, nicht eines, viele. Und sie sind so unterschiedlich wie ihre Geschichte. Es sind die Gesichter von Kuba-Ara, Berberlöwe, Ammersee-Kilch oder einem Schmetterling, Phalanta philiberti, so winzig und zart, dass sein Sterben fast unbemerkt vor sich gehen konnte. Eindringlich sind diese Porträts, die Erwin Geiss in den naturhistorischen Museen der Welt aufgenommen hat. Allesamt vor schwarzem Hintergrund, so dass die Köpfe und Körper der Porträtierten voll zur Geltung kommen, sich der Blick des Betrachters allein auf sie fokussiert. Der Fotograf arbeitet mit dieser Art der Aufnahme die Einzelschicksale sensibel heraus. Es sind weniger der Artenschwund allgemein, sondern vielmehr die zu beklagenden Tode einer ganz bestimmten Spezies. Und auch, wenn er in seiner Vorrede betont, dass er kunsthistorisch nicht an eine Einordnung  in die frühe Kunst der Porträtmalerei beabsichtigt habe, so drängt sich der Vergleich geradezu auf. Die Bildsprache erinnert an die Porträts der Renaissance, als die Künstlers in ihren Bildern versuchten, das ganze Wesen des Dargestellten lebhaft zum Ausdruck zu bringen.

Intensiv sind die Bilder der Tiere, sehr klar, jedes Detail ist erkennbar, sie sind zum Greifen nahe – und rücken doch ganz fern von uns. Denn auch wenn die Dargestellten lebendig wirken, es eint sie, dass sie bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme (aus-)gestorben sind. Sie alle sind Exponate, ausgestopft und präpariert. Sie haben unsere Welt verlassen und sie kehren nicht zurück. Genau das lesen empathische Betrachter*innen in ihrem Blick: Und nun?, scheinen sie zu fragen, wie geht es weiter?

Mit Zahlen vielleicht: von 8 Millionen Tier- und Pflanzenarten auf unsere Erde, sind eine Million vom Aussterben bedroht. Ein Achtel. Dass daran allein der Mensch die Schuld trägt, auch das erzählt die sorgfältig kuratierte Ausstellung. Neben jedem Porträt können die Ausstellungsbesucher*innen, nicht nur den Namen der ausgestorbenen Art, sondern auch den Grund des Sterbens ablesen – und dieser ist stets vom Mensch verursacht. Zerstörung der Lebensräume, Einfuhr von Fressfeinden wie Ratten oder Wiesel. Flächenfraß, Pestizide oder der Hunger auf Fleisch und Trophäen haben das sechste große Sterben auf der Erde verursacht.

In seiner Eröffnungsrede skizziert Erwin Geiss die ersten großen Massensterben von Algen, Sauriern oder maritimen Lebewesen. Sie waren Opfer von Vulkanismus oder Asteroiden und ihr Sterben liegt Jahrmillionen und länger zurück. Dem Artensterben, mit dem wir heute konfrontiert sind und das eher eine Artenausrottung ist, ist von Menschenhand gemacht. Nur wir haben es geschafft, innerhalb kürzester Zeit eine Spezies wie die Wandertaube auszurotten – einen Bestand von 5 Milliarden innerhalb von einem Jahrhundert auf null zu reduzieren. Der Grund? Gier auf billiges Fleisch. Die Taube wurde zu Tode gejagt.

Erwin Geiss, Geologe und Hobby-Fotograf, hat Porträts von bestechender Schönheit geschaffen, die darüber hinaus aber wertvoll in ihrem Erinnerungswert sind. Haltet ein, möchten uns die abgebildeten Tiere sagen, noch ist es nicht zu spät.

Die Fotografien sind käuflich erwerbbar – von jedem verkauften Bild spendet Erwin Geiss 300,00 Euro an den WWF. Auch das ist eine Möglichkeit von vielen, Gutes zu tun und die Bestrebungen, das Artensterben zu stoppen, zu unterstützen.

Tanja Weber, 21.09.2022


Direkt nach der Veranstaltung schreiben professionelle Kulturjournalist*innen eine unabhängige Kritik zu jeder Veranstaltung des Theaterforums. Diese Kritik enthält dabei ausschließlich die Meinung der Autor*innen.
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Di, 20.09.2022 | © Werner Gruban - Theaterforum Gauting e.V.